Beim ersten Mal erklärte sie, dass sie einfach nicht mehr an den Bürgermeister gedacht und sein Haus vergessen hätte – eine armselige Ausrede, prangte das Haus doch auf dem Hügel, türmte sich geradezu hoch über der Stadt auf, und nicht daran zu denken war schlichtweg unmöglich. Als sie noch einmal hingehen musste und wieder unverrichteter Dinge zurückkam, log sie, dass niemand zu Hause gewesen sei.
»Niemand zu Hause?« Mama war skeptisch. Die Skepsis erweckte in ihr das Verlangen, nach dem Holzlöffel zu greifen. Sie wedelte Liesel damit vor der Nase herum und sagte: »Du gehst jetzt da hin, und wenn du wieder mit der Wäsche heimkommst, brauchst du überhaupt nicht mehr zu kommen.«
»Ehrlich?«
Das war Rudis Reaktion, als Liesel ihm erzählte, was Mama gesagt hatte. »Wollen wir zusammen durchbrennen?«
»Wir werden verhungern.«
»Ich sterbe sowieso gleich vor Hunger!« Beide lachten.
»Nein«, sagte sie. »Ich muss es tun.«
Sie gingen wie so oft gemeinsam durch die Stadt. Wie immer wollte er ein Kavalier sein und ihr den Wäschesack tragen, aber Liesel lehnte das Angebot wie immer ab. Nur ihr drohte die Abreibung, die Mama ihr verpassen würde, daher vertraute sie in Bezug auf das korrekte Tragen des Sackes auch nur sich selbst. Jeder andere würde mit dem Sack grob umgehen, ihn verdrehen oder auf eine andere Art und Weise schlecht behandeln, und das Risiko wollte sie nicht eingehen. Außerdem war es wahrscheinlich, dass Rudi, sollte sie ihm erlauben, den Sack zu tragen, als Gegenleistung einen Kuss verlangen würde, und dazu wollte sie es unter keinen Umständen kommen lassen. Im Übrigen war sie an das Gewicht des Sacks gewöhnt. Sie wechselte ihn alle hundert Schritte von einer Schulter auf die andere, um ihren Körper gleichmäßig zu belasten.
Liesel ging links und Rudi rechts. Rudi redete die meiste Zeit, über das jüngste Fußballspiel in der Himmelstraße, über die Arbeit im Geschäft seines Vaters und alles, was ihm sonst noch in den Sinn kam. Liesel versuchte zuzuhören – vergeblich. Was sie hörte, war die Furcht, die ihr in den Ohren klingelte und immer lauter wurde, je näher sie der Großen Straße kamen.
»Was machst du denn? Ist das nicht das Haus?«
Liesel nickte. Rudi hatte recht. Sie hatte versucht, am Haus des Bürgermeisters vorbeizugehen, um etwas Zeit zu schinden.
»Na, dann geh schon«, drängte der Junge sie. Molching verdunkelte sich bereits. Die Kälte kroch aus dem Boden. »Beweg dich, Saumensch.« Er blieb am Tor stehen.
Hinter dem Pfad führten acht Stufen zum Vordereingang des Hauses, und die große Tür kam Liesel wie ein Monster vor. Stirnrunzelnd blickte sie den Türklopfer aus Messing an.
»Worauf wartest du denn?«, rief Rudi vom Tor aus.
Liesel drehte sich um und schaute auf die Straße. Gab es eine Möglichkeit, irgendeine, um der Sache aus dem Weg zu gehen? Gab es irgendwo eine Geschichte – oder besser gesagt: eine Lüge -, die sie noch nicht in Erwägung gezogen hatte?
»Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.« Wieder Rudis Stimme, ein ganzes Stück von ihr entfernt. »Worauf zum Teufel wartest du?«
»Halt die Klappe, Steiner!« Es war ein Schrei, in ein Flüstern gehüllt.
»Was?«
»Ich sagte, halt die Klappe, du dämlicher Saukerl...«
Mit diesen Worten wandte sie sich wieder zur Tür, hob den Türklopfer an und schlug ihn langsam drei Mal gegen die Platte aus Messing. Auf der anderen Seite der Tür näherten sich Schritte.
Zunächst schaute sie die Frau nicht an, sondern behielt den Wäschesack in ihrer Hand im Blick. Sie betrachtete die Kordel, während sie ihn hinüberreichte. Sie nahm das Geld in Empfang und dann... nichts mehr. Die Frau des Bürgermeisters, die niemals sprach, stand einfach in ihrem Morgenmantel da. Ihr weiches Fusselhaar war zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein Luftzug machte sich bemerkbar. So sanft wie das letzte flache Atmen eines Toten. Immer noch kamen keine Worte, und als Liesel den Mut fand aufzuschauen, lag auf dem Gesicht der Frau kein Ausdruck von Vorwurf, sondern von vollkommener Teilnahmslosigkeit. Einen Augenblick lang schaute sie über Liesels Schulter hinweg zu dem Jungen hinüber, dann nickte sie und trat zurück, schloss die Tür.
Eine Zeit lang blieb Liesel noch stehen und betrachtete die aufrecht stehende Fläche aus blankem Holz.
»He, Saumensch!« Keine Antwort. »Liesel!«
Liesel zog sich zurück.
Vorsichtig.
Während der ersten Schritte weg vom Haus dachte sie nach.
Vielleicht hatte die Frau ja doch nicht gesehen, wie sie das Buch gestohlen hatte. Es war schon dunkel gewesen. Vielleicht war es einer jener Momente gewesen, in denen es so aussah, als würde eine Person einen direkt anschauen, wenn sie stattdessen zufrieden etwas völlig anderes betrachtet oder einfach in den Tag hineinträumt. Wie auch immer die Antwort lauten mochte, Liesel unternahm keine weiteren Anstrengungen, ihr auf den Grund zu gehen. Sie war davongekommen, und das war genug.
Sie drehte sich um und stieg die Stufen mit normalen Schritten hinunter. Die letzten drei nahm sie mit einem einzigen Satz.
»Gehen wir, Saumensch!« Sie gestattete sich sogar ein Lachen. Die Paranoia einer Elfjährigen war mächtig. Die Erleichterung einer Elfjährigen war übermächtig.
Sie war mitnichten davongekommen.
Die Frau des Bürgermeisters hatte alles genau mit angesehen.
Sie wartete nur auf den richtigen Zeitpunkt.
Ein paar Wochen vergingen.
Fußball auf der Himmelstraße.
Das Schulterzucken zwischen zwei und drei Uhr jeden Morgen, nach dem Albtraum, oder am Nachmittag im Keller.
Ein weiterer Gang zum Haus des Bürgermeisters – mit glücklichem Ausgang.
Alles war herrlich.
Bis.
Bei Liesels nächstem Besuch im Haus des Bürgermeisters, diesmal ohne Rudi, der richtige Zeitpunkt gekommen war. Es war ein Abholtag.
Die Frau des Bürgermeisters öffnete die Tür, und in ihrer Hand hielt sie nicht wie sonst den Wäschesack. Stattdessen trat sie zur Seite und bedeutete dem Mädchen mit ihrer kalkweißen Hand einzutreten.
»Ich will nur die Wäsche abholen.« Liesels Blut war ihr in den Adern getrocknet. Es zerbröselte. Sie wäre beinahe auf der Treppe in Stücke gebrochen.
Da sagte die Frau ihr erstes Wort zu Liesel. Sie streckte die Hand mit den kalten Fingern aus und sagte: »Warte.« Als sie sicher war, dass das Mädchen sich wieder gefasst hatte, drehte sie sich um und ging eilig ins Haus.
»Gott sei Dank«, atmete Liesel aus. »Sie holt sie.« »Sie« war in diesem Fall die Wäsche.
Aber als die Frau wiederkam, hatte sie nichts dergleichen bei sich.
Als sie wiederkam und sich mit einer unglaublich zerbrechlichen Standhaftigkeit vor Liesel aufbaute, hielt sie einen Turm aus Büchern gegen ihren Leib gepresst, von ihrem Bauchnabel aufwärts bis zu ihren Brüsten. Sie wirkte in dem monströsen Türrahmen so verletzlich. Lange, helle Wimpern und nur der leiseste Hauch von Lebendigkeit in ihrem Gesicht. Eine Einladung.
Komm, schau sie dir an, sagte dieses Gesicht.
Sie wird mich foltern, vermutete Liesel. Sie wird mich ins Haus locken, den Kamin anzünden und mich mitsamt den Büchern ins Feuer werfen. Oder sie schließt mich bei Wasser und Brot in den Keller ein.
Aus irgendeinem Grund jedoch – wahrscheinlich erlag sie der Verlockung der Bücher – ging sie hinein. Das Quietschen ihrer Schuhe auf den hölzernen Dielen ließ sie zusammenfahren, und als sie einen weiteren wunden Punkt traf, wo das Holz vernehmlich aufstöhnte, wäre sie beinahe stehen geblieben. Aber die Frau des Bürgermeisters ließ sich nicht aufhalten. Sie schaute nur kurz hinter sich und ging dann weiter, zu einer kastanienbraunen Tür. Jetzt stand in ihrem Gesicht eine Frage.