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»Schlaf gut, Papa«, sagte das Mädchen dann. Sie rutschte um ihn herum, aus dem Bett heraus, um das Licht auszumachen.

Der nächste Aspekt an diesem Sommer war, wie bereits erwähnt, die Bibliothek des Bürgermeisters.

Um uns diese Situation vor Augen zu führen, sollten wir uns einen kühlen Tag Ende Juni betrachten. Rudi war, gelinde gesagt, erbost.

Was dachte sich diese Liesel Meminger dabei, ihm zu erzählen, dass sie heute die Wäsche allein austragen würde? War er etwa nicht gut genug, um sie zu begleiten?

»Hör auf zu jammern, Saukerl«, wies sie ihn zurecht. »Ich fühle mich einfach nicht gut. Außerdem verpasst du sonst das Spiel.«

Er warf einen Blick über die Schulter. »Tja, wenn ich’s recht bedenke...« Ein Schmunzeln überzog sein Gesicht. »Du kannst dich ruhig allein um deine Wäsche kümmern.« Er rannte davon und schloss sich sofort einer der beiden Mannschaften an. Als Liesel das Ende der Himmelstraße erreicht hatte und sich umdrehte, sah sie ihn vor einem der behelfsmäßigen Tore stehen und winken.

»Saukerl«, lachte sie und hob ihre Hand. Sie wusste genau, dass er sie in diesem Augenblick »Saumensch« nannte. Ich denke, näher können Elfjährige der Liebe nicht kommen.

Sie fing an zu rennen, zur Großen Straße und zum Haus des Bürgermeisters.

Sie war schweißgebadet, und zerknitterte Atemzüge erstreckten sich noch immer vor ihr.

Aber sie las.

Die Frau des Bürgermeisters, die das Mädchen bereits zum vierten Mal eingelassen hatte, saß am Schreibtisch und sah die Bücher an. Bei ihrem zweiten Besuch hatte sie Liesel die Erlaubnis erteilt, ein Buch herauszuziehen und es durchzublättern. Eins führte zum anderen, bis ein halbes Dutzend Bücher an ihr klebten, entweder unter ihren Arm geklemmt oder auf dem Stapel, der auf ihrer freien Hand in die Höhe kletterte.

Bei dieser Gelegenheit, als Liesel in der kühlen Weite des Raums stand, fing ihr Magen an zu knurren, was bei der stummen, angeschlagenen Frau keinerlei Reaktion auslöste. Wieder war sie in ihren Morgenmantel gekleidet, und ein paar Mal sah sie auch zu dem Mädchen hinüber, aber nie lange. Sie richtete gewöhnlich ihre Aufmerksamkeit auf das, was ihr nahe war, auf das, was fehlte. Das Fenster war weit geöffnet, ein viereckiges Maul, aus dem gelegentlich böige Wellen schwappten.

Liesel saß auf dem Boden. Die Bücher waren um sie herum verstreut.

Nach vierzig Minuten ging sie. Jedes Buch kehrte an seinen Platz zurück.

»Auf Wiedersehen, Frau Hermann.« Die Worte waren wie immer ein Schock. »Danke schön.« Danach nahm sie das Geld für die Wäsche in Empfang und ging. Sie musste über jeden Schritt Rechenschaft ablegen, und so rannte die Bücherdiebin nach Hause.

Der Sommer machte es sich gemütlich, und der Raum voller Bücher wurde wärmer. Mit jedem Besuch, bei dem sie gleichzeitig Wäsche abholte oder ablieferte, kam Liesel der Boden weniger schmerzhaft vor. Sie saß da mit einem kleinen Stapel Bücher neben sich, und in jedem las sie ein paar Absätze, wobei sie versuchte, sich die Worte, die sie nicht kannte, einzuprägen, um später, zu Hause, Papa danach zu fragen. Als sie älter geworden war und über diese Bücher schrieb, konnte sie sich nicht mehr an die Titel erinnern. An keinen einzigen. Wenn sie sie gestohlen hätte, wäre das sicher anders gewesen.

Woran sie sich erinnerte, war, dass in einem der Bilderbücher in ungeschickt geschriebenen Buchstaben ein Name stand.

DER NAME EINES JUNGEN

Johann Hermann

Liesel biss sich auf die Lippe, aber sie konnte nicht lange widerstehen. Auf dem Boden sitzend, drehte sie sich um und schaute auf die Frau im Morgenmantel. »Johann Hermann«, sagte sie. »Wer ist das?«

Die Frau sah zu dem Platz neben Liesel, irgendwo neben ihren Knien.

Liesel entschuldigte sich. »Es tut mir leid. Ich sollte so etwas nicht fragen...« Sie ließ den Satz einen stummen Tod sterben.

Das Gesicht der Frau veränderte sich nicht, aber irgendwie schaffte sie es zu sprechen. »Er ist nicht mehr...«, stammelte sie. »Er war mein...«

EINE ERINNERUNG

O ja, ich erinnere mich an ihn, ganz genau.

Der Himmel war schlammbraun und dick wie Treibsand.

Da war ein junger Mann, eingepackt in Stacheldraht, wie

eine riesige Dornenkrone. Ich wickelte ihn aus und trug ihn

weg. Hoch über der Erde sanken wir gemeinsam auf die

Knie. Es war irgendein Tag, 1918.

»Abgesehen von allem anderen«, sagte sie, »ist er erfroren.« Einen Augenblick lang spielte sie mit ihren Händen, und dann sagte sie noch einmaclass="underline" »Er ist erfroren, da bin ich mir ganz sicher.«

Die Frau des Bürgermeisters war nur eine aus einer weltumspannenden Brigade. Ihr alle seid ihr schon begegnet, ganz bestimmt. In euren Geschichten, euren Gedichten, auf den Bildschirmen, in die ihr so gerne seht. Sie sind überall, warum also nicht auch hier? Warum nicht hier oben, auf einem hübsch anzusehenden Hügel in einer deutschen Kleinstadt? Der Ort ist zum Leiden ebenso gut wie jeder andere.

Der Punkt ist, dass Ilsa Hermann beschlossen hatte, aus ihrem Leiden einen Triumph zu machen. Als die Qual sich weigerte, von ihr zu lassen, ergab sie sich ihr. Sie hieß sie willkommen.

Sie hätte sich erschießen, sich das Gesicht zerkratzen oder sich anderen grausamen Formen der Selbstverstümmelung hingeben können, aber sie wählte diejenige, die möglicherweise die schwächste von allen war – sie entschied, dass sie wenigstens die Unbequemlichkeit des Wetters ertragen müsse. Liesel hätte wetten können, dass sie sich nur kalte und nasse Sommertage wünschte. Und in dieser Beziehung lebte sie genau am richtigen Ort, meistens jedenfalls.

Als Liesel an diesem Tag das Haus des Bürgermeisters verließ, sagte sie etwas, mit großem Unbehagen. Vier große Worte lieferten sich einen Kampf, sprangen auf ihre Schulter und fielen als unordentliches Quartett vor Ilsa Hermanns Füße. Sie purzelten seitlich von Liesel herab, weil sich das Mädchen unter ihrer Last neigte und sie nicht länger halten konnte. Gemeinsam kauerten sie auf dem Boden, groß und laut und ungeschickt.

VIER GROSSE WORTE

Es tut mir leid.

Wieder betrachtete die Frau des Bürgermeisters den Platz neben dem Mädchen. Ihr Gesicht war so leer wie ein unbeschriebenes Blatt Papier.

»Was denn?«, fragte sie, aber es war zu spät. Das Mädchen hatte den Raum bereits verlassen. Sie war schon fast bei der Haustür. Als sie die Worte hörte, blieb Liesel stehen, aber sie beschloss, nicht zurückzugehen, sondern sich stattdessen geräuschlos aus dem Haus und die Stufen hinab zu entfernen. Sie nahm den Anblick von Molching in sich auf, ehe sie selbst darin versank, und eine Zeit lang bemitleidete sie die Frau des Bürgermeisters.

Manchmal fragte sich Liesel, ob sie die Frau nicht besser in Ruhe lassen sollte, aber Ilsa Hermann war einfach zu interessant und die Anziehungskraft der Bücher zu groß. Früher waren Worte für Liesel nutzlos gewesen, aber jetzt, wenn sie auf dem Fußboden saß und die Frau des Bürgermeisters am Schreibtisch ihres Mannes, verspürte sie ein unwillkürliches Gefühl der Macht. Es kam jedes Mal über sie, wenn sie ein neues Wort entzifferte oder einen Satz zusammentrug.

Sie war ein Mädchen.

In Deutschland, unter Hitler.