Wie passend, dass sie die Macht der Worte entdeckte.
Und wie schrecklich (und doch so erregend!) würde es etliche Monate später sein, wenn sie die Macht dieser neuen Entdeckung in dem Augenblick freisetzte, in dem die Frau des Bürgermeisters sie im Stich ließ. Wie schnell sollte das Mitleid von ihr weichen, und wie schnell sollte es sich in etwas völlig anderes verwandeln!
Aber jetzt, im Sommer 1940, konnte sie nicht sehen, was vor ihr lag, in mehr als einer Hinsicht. Jetzt kannte sie eine trauererfüllte Frau mit einem Raum voller Bücher, den sie gerne aufsuchte. Das war alles. Dies war der zweite Teil ihres Sommerlebens.
Der dritte Teil wurde – Gott sei Dank – mit leichterem Herzen gelebt: Fußball auf der Himmelstraße.
Ich will euch ein Bild malen:
Füße kratzen auf der Straße.
Der Sturm von jugendlichem Atem.
Gebrüllte Worte: »Hier! Hierher! Scheiße!«
Das Aufprallen und Schaben des Balls auf Asphalt.
Sie alle waren da, in der Himmelstraße, genauso wie der Klang der Entschuldigungen, während der Sommer voranschritt.
Die Entschuldigungen gehörten Liesel Meminger.
Geschenkt wurden sie Tommi Müller.
Anfang Juli gelang es ihr endlich, ihn davon zu überzeugen, dass sie ihn nicht umbringen wollte. Seit den Prügeln, die er im letzten November von ihr bezogen hatte, hatte Tommi Angst, sich in ihrer Nähe aufzuhalten. Während der Fußballspiele auf der Himmelstraße hielt er sich stets von ihr fern. »Man kann nie wissen, wann sie einen Anfall kriegt«, erklärte er Rudi im Vertrauen, halb zuckend, halb sprechend.
Zu Liesels Verteidigung muss gesagt werden, dass sie ihre Versuche, ihn zu beruhigen, nie aufgab. Sie war enttäuscht, dass es ihr zwar gelungen war, mit Ludwig Schmeikl Frieden zu schließen, aber nicht mit dem unschuldigen Tommi Müller. Er duckte sich immer noch leicht, wenn er sie sah.
»Wie hätte ich wissen sollen, dass du mich mit deinem Lächeln ermutigen wolltest?«, fragte sie ihn zum wiederholten Mal.
Sie löste ihn sogar ein paar Mal freiwillig im Tor ab, bis alle in der Mannschaft ihn anflehten, wieder seine Position als Torwart zu beziehen.
»Geh wieder ins Tor!«, befahl ihm ein Junge namens Harald Mollenhauer schließlich. »Du kannst doch überhaupt nicht Fußball spielen!« Kurz zuvor hatte Tommi ihn umgerannt, als Harald gerade ein Tor schießen wollte. Er hätte sich zu gerne einen Elfmeter gegeben, aber leider waren Tommi und er in derselben Mannschaft.
Liesel kam aus dem Tor, und es endete jedes Mal damit, dass sie gegen Rudi spielen musste. Sie rempelten sich an, brachten sich gegenseitig zu Fall und beschimpften sich lautstark. Rudis Kommentar lautete: »Diesmal kommt sie damit nicht durch, das dämliche Saumensch. Arschgrobbler. Nie und nimmer.« Er schien es zu genießen, Liesel einen Arschkratzer zu nennen. Ein Kindheitsvergnügen.
Ein weiteres solches Vergnügen war das Stehlen. Teil vier des Sommers 1940.
Es gab viele Dinge, die Rudi und Liesel miteinander teilten, aber das Stehlen schweißte ihre Freundschaft endgültig zusammen. Es ergab sich bei einer passenden Gelegenheit, getrieben von einem machtvollen Umstand – Rudis Hunger. Der Junge war ständig hinter etwas zu essen her.
Ein Problem war die Rationierung, ein weiteres die Tatsache, dass das Geschäft seines Vaters in letzter Zeit nicht besonders gut lief. (Die jüdischen Konkurrenten waren beseitigt worden, die jüdischen Kunden allerdings auch.) Die Steiners kratzten mühsam jeden Pfennig zusammen, um über die Runden zu kommen. Liesel hätte ihm etwas von sich abgegeben, aber auch im Haushalt der Hubermanns herrschte kein Überfluss. Mama kochte meistens Erbsensuppe. Sie bereitete sie am Sonntagabend zu – und nicht nur für eine oder zwei Mahlzeiten. Sie kochte eine derartige Menge an Erbsensuppe, dass sie bis zum folgenden Samstag reichte. Und am Sonntag kochte sie neue. Erbsensuppe, Brot, manchmal eine kleine Portion Kartoffeln oder Fleisch. Man aß den Teller leer, verlangte keinen Nachschlag und beklagte sich nicht.
Am Anfang unternahmen sie etwas, um den Hunger zu vergessen.
Wenn Rudi Fußball spielte, war er nicht hungrig. Ebenso wenig, wenn sie die Fahrräder von Rudis Bruder und Schwester nahmen und damit zu Alex Steiners Laden fuhren oder Liesels Papa besuchten, wenn er gerade Arbeit hatte. Hans Hubermann setzte sich dann zu ihnen und erzählte ihnen im letzten Licht des Nachmittags Witze.
Mit der Ankunft einiger weniger heißer Tage kam eine neue Möglichkeit zur Ablenkung: Liesel wollte in der Amper schwimmen lernen. Das Wasser war immer noch ein bisschen zu kalt zum Schwimmen, aber sie gingen trotzdem hinein.
»Komm schon«, lockte Rudi. »Genau hier. Hier ist es nicht so tief.« Liesel konnte das riesige, tiefe Loch, in das sie watete, nicht sehen und sank geradewegs auf den Grund des Flusses. Wie ein Hund paddelnd, rettete sie ihr Leben, obwohl sie an dem Schwall Wasser, den sie geschluckt hatte, beinahe erstickt wäre.
»Du Saukerl«, schimpfte sie, als sie am Flussufer zusammenbrach.
Rudi hielt sich wohlweislich außerhalb ihrer Reichweite auf. Er hatte erlebt, was sie mit Ludwig Schmeikl angestellt hatte. »Was willst du? Jetzt kannst du doch schwimmen, oder nicht?«
Seine Bemerkung heiterte sie nicht im Mindesten auf. Mit klatschnassen Haaren, die ihr am Gesicht klebten, und rotztriefender Nase marschierte sie davon.
Er rief ihr nach: »Heißt das, ich kriege keinen Kuss dafür, dass ich’s dir beigebracht habe?«
»Saukerl!«
So eine Frechheit!
Es war unausweichlich.
Die deprimierende Erbsensuppe und Rudis Hunger trieben sie schließlich zum Diebstahl. Sie schlossen sich einer Gruppe von Jugendlichen an, die von den Bauern stahlen. Obsträuber. Es war nach einem Fußballspiel, als Liesel und Rudi erkannten, wie vorteilhaft es war, beide Augen offen zu halten. Sie saßen auf Rudis Eingangstreppe und sahen Fritz Hammer einen Apfel essen. Es war ein Klarapfel, eine Apfelsorte, die im Juli und August reif wird, und er sah in der Hand des Jungen einfach herrlich aus. Drei oder vier weitere beulten sichtbar seine Jackentaschen aus. Liesel und Rudi schlenderten näher.
»Woher hast du die?«, wollte Rudi wissen.
Der Junge grinste nur und sagte: »Pst!« Dann blieb er stehen. Er zog einen Apfel aus seiner Jacke und warf ihn Rudi zu. »Nur anschauen«, warnte er. »Nicht reinbeißen.«
Das nächste Mal, als sie den Jungen dieselbe Jacke tragen sahen – an einem Tag, an dem es eigentlich zu warm dafür war -, folgten sie ihm. Er führte sie die Amper flussaufwärts, in die Nähe der Stelle, wo Liesel manchmal mit ihrem Papa gesessen und lesen gelernt hatte. Dort wartete eine Gruppe von fünf Jungen, einer davon schlaksig, die anderen klein und drahtig.
Zu dieser Zeit gab es in Molching einige solcher Gruppen, in denen die Mitglieder manchmal erst sechs Jahre alt waren. Der Anführer dieses Haufens hier war ein nicht unfreundlicher fünfzehnjähriger Krimineller namens Arthur Berg. Er schaute sich um und sah die beiden Kinder aus dem Hintergrund treten. »Und?«, fragte er.
»Ich bin am Verhungern«, gab Rudi zurück.
»Und er ist schnell«, ergänzte Liesel.
Berg schaute sie an. »Ich kann mich nicht erinnern, dich um deine Meinung gebeten zu haben.« Er war ein hochgewachsener Junge mit einem langen Hals. Hier und da hatten sich auf seinem Gesicht Pickelhaufen zusammengerottet. »Aber ich mag dich.« Er war, wie gesagt, ganz freundlich, auf eine clevercharmante, halbwüchsige Art. »Ist das nicht die, die deinem Bruder eine Abreibung verpasst hat, Anderl?« Die Schulhofkeilerei hatte in Windeseile die Runde gemacht. Ein solches Ereignis überwindet alle Altersunterschiede. Ein anderer Junge – einer von den kleinen, drahtigen, mit zotteligem blondem Haar und eisfarbener Haut – schaute zu ihnen hinüber. »Ich glaube schon.«
Rudi bestätigte dies. »Sie ist es.«
Andi Schmeikl kam herbei und musterte Liesel von oben bis unten.
Sein Gesicht war nachdenklich, doch dann verzog es sich zu einem breiten Grinsen. »Gut gemacht, Kleine.« Er versetzte ihr sogar einen Schlag auf die Wirbelsäule und traf eine Kante ihres Schulterblattes. »Ich hätte dafür Prügel bezogen.«