Arthur war neben Rudi getreten. »Und du bist der mit der Jesse-Owens-Sache, stimmt’s?«
Rudi nickte.
»Du bist eindeutig ein Idiot«, sagte Arthur, »aber die Art von Idiot, die wir mögen. Kommt mit.«
Sie waren aufgenommen.
Als sie den Bauernhof erreichten, bekamen Liesel und Rudi einen Sack zugeworfen. Arthur Berg hatte eine Tasche aus Sackleinen dabei. Er fuhr mit der Hand durch die zarten Strähnen seines Haars. »Habt ihr schon mal was gestohlen?«
»Klar«, brüstete sich Rudi. »Schon oft.« Er spielte seine Rolle nicht sehr überzeugend.
Liesel war präziser. »Ich habe zwei Bücher gestohlen«, woraufhin Arthur drei Mal kurz schnaubend lachte. Seine Pickel wanderten dabei über sein Gesicht.
»Bücher kann man nicht essen, Süße.«
Sie begutachteten die Apfelbäume, die in langen, kurvigen Reihen standen. Arthur Berg gab die Befehle. »Erstens«, sagte er. »Verfangt euch nicht im Zaun. Wenn euch das passiert, bleibt ihr zurück. Kapiert?« Alle nickten oder sagten Ja. »Zweitens: Einer klettert in den Baum, der andere bleibt unten. Einer muss die Äpfel ja aufsammeln.« Er rieb sich die Hände. Offensichtlich genoss er das alles. »Drittens: Wenn ihr jemanden kommen seht, schreit ihr so laut, dass selbst die Toten wach werden – und dann nichts wie weg. Alles klar?«
»Alles klar!«, erklang es im Chor.
»Liesel, bist du sicher? Willst du immer noch mitmachen?«
»Schau dir mal den Stacheldraht an, Rudi.
Der ist so hoch!«
»Nein, nein, guck maclass="underline" Du wirfst einfach den Sack drüber.
Siehst du? So machen es die anderen auch.«
»Also gut.«
»Dann komm jetzt!«
»Ich kann nicht.« Zögern. »Rudi, ich...«
»Beweg dich, Saumensch!«
Er schob sie auf den Zaun zu, warf den leeren Sack über den Stacheldraht, und sie kletterten hinüber und liefen dann den anderen hinterher. Rudi steuerte den am nächsten stehenden Baum an, kletterte hinauf und fing an, die Äpfel hinunterzuwerfen. Liesel stand unten und steckte sie in den Sack. Als er voll war, standen sie vor einem weiteren Problem.
»Wie kommen wir jetzt wieder über den Zaun?«
Die Antwort bekamen sie von Arthur Berg, der direkt neben einem Zaunpfosten hinüberkletterte. »Der Draht ist hier straffer«, bemerkte er. Rudi deutete auf Liesel. Er warf den Sack hinüber, schob Liesel über den Zaun und landete kurze Zeit später neben ihr, auf einem Berg von Äpfeln, die aus dem Sack gerollt waren.
Neben ihnen standen die langen Beine von Arthur Berg. Er amüsierte sich.
»Nicht schlecht«, landete die Stimme von oben zwischen ihnen. »Gar nicht schlecht.«
Nachdem sie zum Fluss zurückgekehrt waren, nahm er Liesel und Rudi den Sack ab und gab ihnen insgesamt ein Dutzend Äpfel, die sie untereinander aufteilen sollten.
»Gute Arbeit«, lautete sein abschließender Kommentar zu der Sache.
Bevor sie an diesem Nachmittag nach Hause gingen, aßen Liesel und Rudi jeweils sechs Äpfel in einer halben Stunde. Zunächst spielten sie mit dem Gedanken, das Obst mit ihren Familien zu teilen, aber das erschien ihnen zu gefährlich. Sie waren nicht gerade erpicht darauf, erklären zu müssen, woher sie die Äpfel hatten. Liesel überlegte, ob sie nicht wenigstens Papa einweihen sollte, doch er sollte nicht glauben, dass er eine Gewohnheitsverbrecherin an seinem Busen nährte. Und so aß sie.
Am Ufer, wo sie Schwimmen gelernt hatte, wurde jeder einzelne Apfel verspeist. Sie waren eine solche Schlemmerei nicht gewohnt, und ihnen war klar, dass ihnen wahrscheinlich schlecht werden würde.
Sie aßen trotzdem.
»Saumensch!«, schimpfte Mama am Abend. »Warum musst du denn kotzen?«
»Vielleicht liegt es an der Erbsensuppe«, sagte Liesel.
»Bestimmt«, erklärte Papa. Er saß wieder am Fenster. »Woran denn sonst? Mir ist auch schon ganz übel.«
»Wer hat dich denn gefragt, Saukerl?« Schnell wandte sie sich wieder dem kotzenden Saumensch zu. »Na? Sag schon. Nun rede schon, du Dreckschwein.«
Und Liesel?
Sie sagte nichts.
Die Äpfel, dachte sie glücklich, die Äpfel, und sie erbrach sich ein weiteres Mal, der guten Ordnung halber.
DIE ARISCHE LADENBESITZERIN
Sie standen vor Frau Lindners Eckladen an die weiß getünchte Wand gelehnt.
In Liesel Memingers Mund steckte ein Bonbon.
In ihren Augen stand die Sonne.
Trotz dieser Hindernisse war sie dennoch in der Lage zu sprechen und zu streiten.
»Mach schon, Saumensch, das waren schon zehn Mal.«
»Stimmt nicht, es waren erst acht – ich habe noch zwei.«
»Na, dann beeil dich gefälligst. Ich sag’s ja, wir hätten ein
Messer holen und es in zwei Hälften sägen sollen. – Komm
schon, das waren jetzt noch zwei Mal!«
»Also gut. Hier. Und schluck’s bloß nicht runter!«
(Eine kurze Pause.)
»Das ist klasse, was?«
»Darauf kannst du wetten, Saumensch.«
Sowohl der August als auch der Sommer gingen bald zu Ende, da fanden sie einen Pfennig auf dem Boden. Helle Aufregung.
Er steckte halb verrottet im Dreck, auf dem Weg, den Liesel mit der Wäsche ging. Eine einsame, verrostete Münze.
»Schau dir das an!«
Rudi stürzte sich darauf. Die Erregung stach in ihrem Innern, während sie zu Frau Lindners Laden zurücksausten. Sie verschwendeten keinen Gedanken daran, dass sie mit einem einzigen Pfennig nicht besonders weit kommen würden. Sie stolperten durch die Tür und standen vor der arischen Ladenbesitzerin, die voller Verachtung auf sie niederblickte.
»Ich warte«, sagte sie. Ihr Haar war straff zurückgekämmt, und ihr schwarzes Kleid würgte ihren Körper. Von der Wand aus hielt das gerahmte Foto des Führers Wache.
»Heil Hitler«, sagte Rudi.
»Heil Hitler«, erwiderte sie und richtete sich hinter der Theke zu voller Größe auf. »Und du?« Sie funkelte Liesel an, die mit einem prompten »Heil Hitler« reagierte.
In Windeseile fischte Rudi die Münze aus der Hosentasche und legte sie entschlossen auf die Theke. Er schaute geradewegs in Frau Lindners bebrillte Augen und sagte: »Gemischte Bonbons, bitte.«
Frau Lindner lächelte. Ihre Zähne drängelten in ihrem Mund, um Platz zu finden, und ihre unerwartete Freundlichkeit brachte auch Liesel und Rudi zum Lächeln. Aber es währte nicht lange.
Frau Lindner bückte sich, kramte einen Moment lang herum und tauchte dann wieder hinter der Theke auf. »Hier«, sagte sie und warf ein einzelnes Bonbon auf die Theke. »Mischen könnt ihr es selbst.«
Draußen wickelten sie das Bonbon aus und versuchten, es in zwei Hälften zu beißen, aber der Zucker war so hart wie Glas. Er war sogar zu hart für Rudis Reißzähne. Stattdessen mussten sie das Bonbon in Lutschportionen aufteilen. Zehn Mal Lutschen für Rudi, zehn Mal für Liesel. Hin und her, bis das Bonbon verschwunden war.
»So«, verkündete Rudi irgendwann mit einem bonbonverklebten Lächeln, »gefällt mir das Leben.« Liesel konnte ihm nur zustimmen. Als sie fertig waren, leuchteten ihre Münder feuerrot, und auf dem Heimweg schärften sie sich gegenseitig ein, nach weiteren verlorenen Münzen Ausschau zu halten.