Ein Mal sahen sie ihn noch, auf einer von Liesels Wäschetouren. In einer Seitengasse der Münchener Straße überreichte er Liesel eine braune Papiertüte mit einem Dutzend Esskastanien. Er grinste. »Ich habe Beziehungen.« Dann verkündete er seinen Weggang, schenkte ihnen ein letztes, pickliges Lächeln und verpasste beiden einen Klaps auf die Stirn. »Esst nicht alle auf einmal.« Sie sahen Arthur Berg nie wieder.
Was mich betrifft – ja, ich begegnete ihm noch ein Mal.
Der Himmel über Köln war gelb und faulig,
franste an den Kanten aus.
Er saß mit dem Rücken an eine Mauer gelehnt,
mit einem Kind in den Armen. Seine Schwester.
Als sie aufhörte zu atmen, blieb er bei ihr, und ich spürte,
dass er sie noch stundenlang halten würde.
In seiner Tasche steckten zwei gestohlene Äpfel.
Diesmal machten sie es besser. Sie aßen jeder eine Kastanie. Dann gingen sie von Tür zu Tür und verkauften den Rest.
»Wenn Sie ein bisschen Kleingeld übrig haben«, sagte Liesel an jeder Haustür, »dann können Sie ein paar Esskastanien bekommen.« Am Ende besaßen sie sechzehn Pfennige.
»Und jetzt«, grinste Rudi, »lass uns Rache nehmen.«
Am selben Nachmittag noch kehrten sie bei Frau Lindner ein, heilhitlerten brav und warteten.
»Schon wieder gemischte Bonbons?«, schmunzelte sie, woraufhin sie nickten. Das Geld spritzte auf die Theke, und Frau Lindners Schmunzeln fiel auseinander.
»Ja, Frau Lindner«, sagten sie im Chor. »Gemischte Bonbons, bitte.«
Der gerahmte Führer blickte stolz auf sie hinab.
Es war der Triumph vor dem Sturm.
DER KÄMPFER: LETZTE RUNDE
Mit der Spielerei hat es nun bald ein Ende, nicht aber mit dem Spektakel. Ich halte Liesel Meminger in einer Hand und Max Vandenburg in der anderen. Bald schon werde ich sie zusammenprallen lassen. Lasst mir noch ein paar Seiten Zeit.
Der Kämpfer.
Wenn sie ihn heute Nacht umbrächten, würde er wenigstens lebendig sterben.
Die Zugfahrt war nun Vergangenheit. Die schnarchende Frau hatte sich vermutlich in dem Abteil ausgestreckt, das heute Nacht ihr Bett sein würde. Jetzt lagen nur noch Schritte zwischen Max und der Rettung. Schritte und Gedanken. Und Zweifel.
In seinen Gedanken folgte er dem Weg auf der Karte, von Pasing nach Molching. Es war schon spät, als er die Kleinstadt vor sich sah. Seine Beine taten schrecklich weh, aber er war fast da – an dem gefährlichsten Ort, an dem er sich befinden konnte. Nah genug, um ihn zu berühren.
Wie beschrieben, fand er die Münchener Straße und betrat den Bürgersteig.
Alles versteifte sich.
Glühende Taschen aus Straßenbeleuchtung.
Dunkle, untätige Gebäude.
Das Rathaus stand wie ein riesiger Junge da, der die Hand zur Faust geballt hatte, zu groß für sein Alter. Die Kirche verschwand in der Dunkelheit, je weiter sein Auge nach oben wanderte.
Alles betrachtete ihn.
Er zitterte.
Er warnte sich: »Halt die Augen offen.«
(Deutsche Kinder hielten Ausschau nach verlorenen Münzen. Deutsche Juden waren auf der Hut vor einer möglichen Gefangennahme.)
Er hielt sich weiterhin an die Zahl dreizehn, die ihm Glück bringen sollte, und so zählte er seinen Weg in Abschnitten von je dreizehn Schritten ab. Nur noch dreizehn Schritte, sagte er sich. Komm schon, noch dreizehn Schritte. Schätzungsweise neunzig Dreizehnerabschnitte machte er, bis er endlich an der Ecke der Himmelstraße stand.
In einer Hand hielt er seinen Koffer.
Die andere umklammerte immer noch Mein Kampf.
Beides war schwer, und beides wurde von einer sanften Schweißabsonderung liebkost.
Jetzt bog er in die Seitenstraße ein und ging auf das Haus Nummer 33 zu. Er unterdrückte das Verlangen zu lächeln, unterdrückte das Verlangen zu schluchzen oder sich auch nur die Geborgenheit vorzustellen, die ihn möglicherweise erwartete. Er gemahnte sich daran, dass dies nicht die richtige Zeit für Hoffnung war. Sicher, er konnte sie beinahe berühren. Er konnte sie fühlen, gerade außerhalb seiner Reichweite. Statt dieses Gefühl anzuerkennen, beschäftigte er sich wieder mit der Frage, was er tun sollte, wenn er im letzten Moment geschnappt oder die falsche Person hinter der Haustür auf ihn warten würde.
Natürlich empfand er auch ein kratzendes Empfinden von Sünde.
Wie konnte er das tun?
Wie konnte er hier auftauchen und diese Leute bitten, ihr Leben für ihn zu riskieren? Wie konnte er so selbstsüchtig sein?
33.
Sie schauten einander an.
Das Haus war bleich, wirkte beinahe kränklich, mit einem eisernen Gartentor und einer braunen, mit Spuckeflecken übersäten Haustür.
Aus seiner Tasche zog er den Schlüssel. Er funkelte nicht, sondern lag trüb und müde in seiner Hand. Eine Sekunde lang drückte er ihn und erwartete fast, dass er in seiner Hand schmelzen und sein Handgelenk hinabtropfen würde. Er tat es nicht. Das Metall war fest und flach, mit einer gesunden Zahnreihe, und er drückte sie so lange, bis sie ihn biss.
Langsam beugte sich da der Kämpfer vor, lehnte seine Wange gegen das Holz und holte den Schlüssel aus seiner Faust.
TEIL 4
DER ÜBERSTEHMANN
Es wirken mit:
der Akkordeonspieler – ein Versprechen, das gehalten wird –
ein gutes Mädchen – ein jüdischer Faustkämpfer – Rosas Zorn –
eine Mahnung – ein Schläfer – der Austausch von
Albträumen – und einige Seiten aus dem Keller
DER AKKORDEONSPIELER (Das geheime Leben des Hans Hubermann)
Ein junger Mann stand in der Küche. Der Schlüssel in seiner Hand fühlte sich an, als würde er in seine Haut hineinrosten. Er sagte nicht »Hallo« oder »Bitte helfen Sie mir« oder was man sonst noch hätte erwarten können. Er stellte zwei Fragen.
»Hans Hubermann?«
»Spielen Sie immer noch Akkordeon?«
Unbehaglich betrachtete der junge Mann die menschliche Gestalt vor sich. Er schabte seine Stimme hervor und reichte sie durch die Dunkelheit, als ob das alles wäre, was von ihm übrig geblieben war.
Papa, wachsam und entgeistert, trat näher.
Zur Küche gewandt, flüsterte er: »Natürlich spiele ich noch.«
Alles begann vor vielen Jahren, im Ersten Weltkrieg.
Sie sind seltsam, diese beiden Kriege.
Voller Blut und Gewalt – aber auch voller Geschichten, die genauso schwer zu begreifen sind. »Es stimmt«, murmelt so mancher. »Es ist mir egal, ob du mir glaubst oder nicht. Es war dieser Fuchs, der mir das Leben rettete.« Oder: »Rechts und links von mir krepierten sie, und ich blieb stehen. Ich bekam als Einziger keine Kugel zwischen die Augen. Warum ich? Warum ich und nicht sie?«
Hans Hubermanns Geschichte war diesen nicht unähnlich. Als ich sie mir in den Worten der Bücherdiebin zu Gemüte führte, wurde mir klar, dass Hans und ich in dieser Zeit ein paar Mal aneinander vorbeigegangen waren, aber von Angesicht zu Angesicht getroffen hatten wir uns nie. Ich selbst hatte damals viel zu tun. Was Hans betrifft, so denke ich, dass er sein Möglichstes tat, um mir aus dem Weg zu gehen.