Als ich mich das erste Mal in seiner Nähe befand, war Hans zweiundzwanzig Jahre alt und kämpfte in Frankreich. Die Mehrzahl der jungen Männer in seiner Einheit war begierig auf die Schlacht. Hans war unsicher. Ich hatte ein paar von ihnen unterwegs aufgelesen, kann aber guten Gewissens sagen, dass ich Hans Hubermann niemals zu nahe kam. Er hatte entweder zu viel Glück, oder er verdiente es zu leben. Oder er hatte einen guten Grund, am Leben zu hängen.
In der Armee fiel er nicht auf, weder positiv noch negativ. Er konnte mittelmäßig schnell laufen, mittelmäßig klettern, und er schoss gerade anständig genug, um seine Vorgesetzten nicht zu empören. Aber er war auch nicht so gut, dass er zu den Auserwählten gehört hätte, die mir an vorderster Front direkt in die Arme liefen.
In all den Jahren habe ich so viele junge Männer gesehen,
die der Meinung waren, auf andere junge Männer zuzulaufen.
Aber das stimmt nicht.
Sie alle liefen mir zu.
Er war fast sechs Monate im aktiven Dienst, ehe er nach Frankreich kam, wo ein denkwürdiges Ereignis sein Leben rettete. Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, könnte man behaupten, dass in all dem Irrsinn des Krieges dieses Ereignis tatsächlich einen Sinn ergab.
Insgesamt hatte ihn die Zeit, die er bislang im Großen Krieg verbracht hatte, über alle Maßen erstaunt, von dem Moment an, in dem er in die Armee eingetreten war. Es war wie eine Fortsetzungsgeschichte. Tag für Tag für Tag. Für Tag:
Die Gespräche der Kugeln.
Ruhende Männer.
Die besten schmutzigen Witze der Welt.
Kalter Schweiß – dieser bösartige kleine Freund, der sein Verweilen in den Achselhöhlen und Hosen über Gebühr in die Länge zieht.
Am meisten genoss er die Kartenspiele, gefolgt von der einen oder anderen Partie Schach, obwohl er armselig spielte. Und die Musik. Immer die Musik.
Es gab da einen Mann, der etwa ein Jahr älter war als er selbst, ein deutscher Jude namens Erik Vandenburg, der ihm das Akkordeonspielen beibrachte. Die beiden wurden allmählich zu Freunden, auch aufgrund des Umstands, dass keiner der beiden sonderlich am Kämpfen interessiert war. Sie zogen es vor, sich Zigaretten zu drehen statt sich selbst in Schnee und Schlamm. Sie übten lieber das Akkordeonspielen als das Schießen. Eine feste Freundschaft wurde auf Glücksspiel, Zigaretten und Musik erbaut, von dem gemeinsamen Wunsch zu überleben ganz zu schweigen. Das einzig Ärgerliche bei der Sache war, dass man Erik Vandenburg später in etliche Stücke zerschossen auf einem grasbewachsenen Hügel finden würde. Seine Augen waren offen, und sein Ehering war gestohlen worden. Ich schaufelte seine Seele und die einiger anderer zusammen, und wir zogen ab. Der Horizont hatte die Farbe von Milch. Kalt und frisch. Herausgelaufen zwischen den Leichen.
Alles, was von Erik Vandenburg übrig blieb, waren ein paar persönliche Gegenstände und das mit Fingerabdrücken übersäte Akkordeon. Alles außer dem Instrument schickte man heim. Das Akkordeon hielt man für zu groß. Es stand auf dem Behelfsbett im Hauptquartier und sah aus, als würde es sich Vorwürfe machen. Man überließ es dem Freund, Hans Hubermann, der zufällig der einzige Mann war, der überlebt hatte.
An diesem Tag zog er nicht in die Schlacht.
Das hatte er Erik Vandenburg zu verdanken. Oder genauer gesagt Erik Vandenburg und der Zahnbürste des Feldwebels.
An diesem Morgen, kurz bevor sie ausrücken mussten, trat Feldwebel Stephan Schneider in die Unterkunft und ließ die Soldaten strammstehen. Er war beliebt bei den Männern, denn er besaß Sinn für Humor und für Streiche, wurde aber besonders geschätzt, weil er niemals jemandem in eine Schlacht folgte. Er ging stets voran.
Manchmal kam er in das Quartier der Männer und stellte Fragen wie »Wer kommt aus Pasing?« oder »Wer kann gut rechnen?« oder, an jenem schicksalhaften Morgen: »Wer von euch hat eine schöne Handschrift?«
Niemand meldete sich mehr freiwillig, seit er beim ersten Mal, als sich ein eifriger junger Soldat namens Philipp Schlink stolz gemeldet und gesagt hatte: »Ich komme aus Pasing!«, den armen Tropf dazu verdonnert hatte, das Scheißhaus mit einer Zahnbürste zu schrubben.
Ihr könnt euch sicher vorstellen, warum niemand die Hand hob, als der Feldwebel nach einem Schönschreiber verlangte. Die Soldaten dachten, dass sie sich möglicherweise einer gründlichen Hygieneinspektion unterziehen oder die dreckverkrusteten Stiefel irgendeines Leutnants putzen müssten.
»Also bitte«, tadelte Schneider seine Männer. Sein Haar war mit jeder Menge Pomade am Kopf angeklebt und glänzte, wobei wie üblich an seinem Scheitel eine kleine Haarsträhne wachsam in die Höhe ragte. »Wenigstens einer von euch Mistkerlen ist doch bestimmt in der Lage, anständig zu schreiben.«
In der Ferne ertönte Kanonendonner.
Das führte zu einer leichten Unruhe.
»Hört zu«, sagte Schneider, »diesmal ist es anders. Es wird den ganzen Morgen dauern, wenn nicht länger.« Er konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Schlink hat das Scheißhaus geschrubbt, während ihr anderen Karten gespielt habt. Aber diesmal geht ihr da raus.«
Leben oder Stolz.
Er hatte offensichtlich die Hoffnung, dass einer seiner Männer so klug war, das Leben zu wählen.
Erik Vandenburg und Hans Hubermann wechselten einen Blick. Wenn jetzt jemand vortrat, würde ihm seine Einheit später das Leben zur Hölle machen. Niemand schätzte einen Feigling. Andererseits, wenn einer einen anderen vorschlug …
Immer noch meldete sich niemand, aber eine Stimme trat heraus und schlenderte auf den Feldwebel zu. Sie blieb vor seinen Stiefeln hocken und wartete auf einen kräftigen Fußtritt. Sie sagte: »Der Hubermann, Herr Feldwebel.« Die Stimme gehörte Erik Vandenburg. Er glaubte ganz offensichtlich, dass für seinen Freund noch nicht der Tag gekommen sei, um zu sterben.
Der Feldwebel schritt durch das Spalier aus Soldaten.
»Wer war das?«
Er war ein hervorragender Schreiter, dieser Stephan Schneider – ein klein gewachsener Mann, der alles in Eile tat, egal ob er sprach, sich bewegte oder handelte. Während er zwischen den beiden Reihen aus Soldaten auf und ab ging, schaute Hans geradeaus und wartete darauf, dass Schneider verkündete, um was es ging. Vielleicht war eine der Krankenschwestern unpässlich, und man brauchte jemanden, der die entzündeten Wunden verletzter Soldaten neu verband. Oder aber es warteten Tausende von Briefumschlägen darauf, abgeleckt zu werden, damit sie Todesnachrichten nach Hause tragen konnten.
In diesem Moment wurde die Stimme noch einmal nach vorne getragen und zog ein paar weitere mit sich. »Der Hubermann«, ertönte ein vielfältiges Echo. Erik fügte sogar hinzu: »Tadellose Handschrift, Herr Feldwebel, tadellos.«
»Dann ist es also abgemacht.« Ein schmales, rundes Grinsen. »Hubermann, Sie sind mein Mann.«
Der schlaksige junge Soldat trat vor und erkundigte sich, worin seine Pflicht bestehen werde.
Der Feldwebel seufzte. »Der Hauptmann muss einigen Schriftverkehr erledigen, ein paar Dutzend Briefe, und er hat schlimmes Rheuma in den Fingern, oder Arthritis. Sie werden diese Briefe schreiben.«
Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, um sich zu beklagen, besonders wenn man bedenkt, dass Schlink die Toiletten hatte putzen und ein anderer Soldat, Pflegger, tatsächlich Briefumschläge hatte ablecken müssen, und zwar so viele, dass sich zunächst seine Zunge und später seine ganze Mundhöhle entzündete.