»Jawohl, Herr Feldwebel.« Hans nickte, und damit war es beschlossene Sache. Seine Schreibqualitäten waren, gelinde gesagt, recht zweifelhaft, aber er hielt sich für vom Glück gesegnet. Er schrieb die Briefe, so gut er konnte, während seine Kameraden in die Schlacht zogen.
Keiner von ihnen kehrte zurück.
Das war das erste Mal, dass Hans Hubermann mir entwischte. Im Ersten Weltkrieg.
Das zweite Mal würde es 1943 in Essen passieren.
Zwei Kriege, zwei Entkommen.
Einmal jung, einmal in den besten Jahren.
Nicht viele Menschen haben das Glück, mir zwei Mal ein Schnippchen zu schlagen.
Während des ganzen restlichen Krieges schleppte er das Akkordeon mit sich herum.
Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg machte er Erik Vandenburgs Familie in Stuttgart ausfindig. Vandenburgs Frau erklärte ihm, dass er das Akkordeon behalten könne. Ihre Wohnung war voll mit Instrumenten, und es würde sie zu sehr aufregen, dieses besondere Akkordeon anschauen zu müssen. Die anderen reichten ihr als Erinnerung, genauso wie ihr Beruf, den sie einstmals mit ihrem Mann geteilt hatte. Sie gab Musikunterricht.
»Er hat mir beigebracht zu spielen«, sagte Hans zu ihr, als ob das etwas helfen würde.
Vielleicht tat es das wirklich, denn die am Boden zerstörte Frau bat ihn, etwas für sie zu spielen. Sie weinte still vor sich hin, während er ungeschickt auf die Knöpfe und Tasten drückte. Er spielte einen Walzer: »An der schönen blauen Donau«. Es war Erik Vandenburgs Lieblingsstück gewesen.
»Wissen Sie«, sagte Hans Hubermann, »er hat mir das Leben gerettet.« Der Raum war nur spärlich mit Licht und Luft gesegnet. »Er... Wenn es jemals irgendetwas gibt, was Sie brauchen...«
Er legte einen Zettel mit seinem Namen und seiner Adresse auf den Tisch.
»Ich bin Anstreicher von Beruf. Ich kann Ihre Wohnung anstreichen, umsonst, wann immer Sie möchten.«
Er wusste, dass sein Angebot einen völlig unzureichenden Ersatz darstellte, aber er unterbreitete es dennoch.
Die Frau nahm den Zettel, und kurz darauf kam ein kleines Kind herein und kletterte auf ihren Schoß.
»Das ist Max«, sagte die Frau. Der Junge war zu klein und zu schüchtern, um etwas zu sagen. Er war hager, mit weichem Haar, und seine runden, schlammfarbenen Augen schauten zu, als der Fremde in dem schweren Raum ein weiteres Lied spielte. Er schaute von einem zum anderen, auf den Mann, der spielte, und auf die Frau, die weinte. Die Noten griffen nach ihren Augen. So viel Traurigkeit.
Hans ging.
»Du hast mir nie etwas gesagt«, sprach er zu dem toten Erik Vandenburg und der Kulisse von Stuttgart. »Du hast mir nie gesagt, dass du einen Sohn hast.«
Nach einem Moment des Innehaltens und Kopfschüttelns kehrte Hans nach München zurück. Nie hätte er erwartet, jemals wieder von diesen Leuten zu hören.
Was er nicht wusste, war, dass seine Hilfe eines Tages dringend nötig sein würde, allerdings nicht in seiner Funktion als Anstreicher. Doch bis dahin sollten rund zwanzig Jahre vergehen.
Es dauerte einige Wochen, bevor er wieder arbeitete. In den Monaten mit gutem Wetter schuftete er nach Leibeskräften, und selbst im Winter sagte er ein ums andere Mal zu Rosa, dass die Kunden zwar nicht bei ihm Schlange standen, aber hin und wieder schneite doch der eine oder andere herein.
Mehr als zehn Jahre lang ging alles gut.
Hans junior und Trudi kamen zur Welt. Sie wuchsen auf, besuchten ihren Papa auf der Arbeit, klatschten Farbe auf Wände und reinigten Pinsel.
Als Hitler 1933 an die Macht kam, geriet Hans Hubermanns Arbeitsleben in Schieflage. Die meisten Deutschen traten in die NSDAP ein. Hans nicht. Er hatte diese Entscheidung gründlich überdacht.
Er war weder gebildet noch politisch engagiert, aber er
war ein Mann, dem Gerechtigkeit am Herzen lag.
Ein Jude hatte einst sein Leben gerettet, und das hatte
er nicht vergessen. Er konnte keiner Partei beitreten,
die andere Menschen derart zu Feindbildern verzerrte.
Ähnlich wie bei Alex Steiner waren auch viele seiner
Kunden Juden. Wie viele Juden, so glaubte auch Hans,
dass der Hass nicht andauern würde. Es war eine bewusste
Entscheidung, sich nicht hinter Hitler zu stellen.
In vielerlei Hinsicht war es eine katastrophale
Entscheidung.
Als die Verfolgung begann, wurde die Auftragslage merklich schlechter. Am Anfang war es nicht so schlimm, aber bald schon verlor er einen Kunden nach dem anderen. Die Auftragszettel schienen von dem sich erhebenden Nazisturm davongeweht zu werden.
Eines Tages traf er einen alten Bekannten, Herbert Bollinger, in der Münchener Straße. Bollinger war ein Mann mit einem schier unermesslichen Körperumfang, der Hochdeutsch sprach. (Er kam aus Hamburg.) Zunächst schaute der Mann vor sich zu Boden, soweit es sein ausladender Bauch erlaubte, aber als sein Blick zu dem Anstreicher zurückkehrte, bereitete ihm die Frage, die er im Gesicht des anderen las, sichtlich Unbehagen. Es gab für Hans eigentlich keinen Grund, diese Frage zu stellen, aber er tat es trotzdem.
»Was ist nur los, Herbert? Mir laufen die Kunden schneller weg, als ich gucken kann.«
Bollinger hatte sich wieder gefasst. Aufrecht stehend, formulierte er die Antwort als Gegenfrage: »Hans, bist du inzwischen Mitglied?«
»Von was?«
Aber Hans Hubermann wusste genau, wovon Bollinger sprach.
»Ach, komm schon, Hansi«, gab Bollinger zurück. »Stell dich doch nicht so dumm.«
Der hochgewachsene Anstreicher winkte ab und ging weiter.
Die Jahre vergingen, und die Juden wurden nach Belieben im ganzen Land terrorisiert. Im Frühjahr 1937 hätte Hans Hubermann beinahe Schande über sich gebracht und nachgegeben. Er stellte einige Erkundigungen an und gab seinen Antrag auf Aufnahme in die Partei ab.
Sein Antragsformular lag bereits im Parteibüro in der Münchener Straße, da wurde er Zeuge, wie vier Männer Steine in das Schaufenster eines Bekleidungsgeschäftes warfen, das einem gewissen Kleinmann gehörte. Er führte einen der wenigen jüdischen Läden, die in Molching noch geöffnet hatten. Im Verkaufsraum stotterte ein schmächtiger Mann vor sich hin und lief knirschend über zerbrochenes Glas, während er aufräumte. Ein senffarbener Stern war auf die Tür geschmiert worden. In schlampigen Buchstaben standen die Worte »Jüdischer Abschaum« darüber geschrieben. Die hektischen Bewegungen im Innern des Ladens verlangsamten sich zu einem verdrießlichen Schlurfen und verharrten dann gänzlich.
Hans kam näher und steckte den Kopf zur Tür herein. »Brauchst du Hilfe?«
Herr Kleinmann schaute auf. Ein Besen hing nutzlos in seiner Hand. »Nein, Hans. Bitte. Geh weg.«
Hans hatte im vorigen Jahr Joel Kleinmanns Haus neu angestrichen. Er erinnerte sich an die drei Kinder. Er sah ihre Gesichter vor sich, konnte sich aber nicht an die Namen erinnern.
»Ich komme morgen vorbei«, sagte er, »und streiche dir die Tür neu an.«
Was er tat.
Das war der zweite Fehler.
Den ersten beging er direkt nach dem eben beschriebenen Vorfall.
Er kehrte dorthin zurück, woher er gekommen war, und schlug mit der Faust zuerst gegen die Tür und dann gegen das Fenster des NSDAP-Büros. Das Glas erschauerte, aber niemand antwortete. Alle waren schon nach Hause gegangen. Ein Mitglied ging gerade in die entgegengesetzte Richtung davon. Als er das Glas klirren hörte, kehrte er um und erkannte den Anstreicher.
Er fragte, was los sei.
»Ich kann nicht beitreten«, verkündete Hans.
Der Mann war schockiert. »Warum nicht?«