Hans betrachtete die Knöchel seiner rechten Hand und schluckte. Er konnte bereits jetzt seinen Fehler schmecken, wie eine Tablette aus Metall in seinem Mund. »Vergessen Sie’s einfach.«
Und damit ging er nach Hause.
Worte folgten ihm nach.
»Denken Sie nochmal darüber nach, Herr Hubermann. Lassen Sie uns wissen, wie Sie sich entscheiden.«
Er beachtete sie nicht.
Am folgenden Morgen stand er früher als gewöhnlich auf, aber nicht früh genug.
Die Tür von Kleinmanns Bekleidungsgeschäft war noch feucht vom Tau. Hans versuchte sein Bestes. Er schaffte es, die ursprüngliche Farbe anzumischen, und verlieh der Tür einen anständigen Anstrich.
Ein harmlos wirkender Mann ging vorbei.
»Heil Hitler«, sagte er.
»Heil Hitler«, erwiderte Hans.
1. Der Mann, der da an Hans Hubermann vorbeiging, war Rolf Fischer, ein überzeugter Nazi.
2. Innerhalb von sechzehn Stunden standen neue Hetzworte auf der Tür.
3. Hans Hubermann wurde die Aufnahme in die NSDAP bis auf Weiteres verweigert.
Im darauffolgenden Jahr war Hans froh, dass er seinen Mitgliedsantrag nicht offiziell zurückgezogen hatte. Während die Mehrzahl der Anträge umgehend bewilligt wurde, stand sein Name noch immer auf einer Warteliste, und er selbst wurde misstrauisch beobachtet. Gegen Ende des Jahres 1938, nachdem die Juden im Zuge der Kristallnacht endgültig vertrieben worden waren, erhielten die Hubermanns Besuch von der Gestapo. Sie durchsuchten das Haus, und als man nichts Verdächtiges fand, konnte Hans Hubermann sich glücklich schätzen.
Er durfte bleiben.
Möglicherweise rettete ihn die Tatsache, dass er immerhin einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hatte und noch auf eine Entscheidung wartete. Aufgrund dessen – vielleicht auch, weil er ein guter Anstreicher war – wurde er geduldet.
Dann war da noch sein anderer Retter.
Es war das Akkordeon, das ihm vermutlich die Ächtung ersparte. Denn Anstreicher gab es überall in der Gegend, aber dank der kurzen Ausbildung, die Hans bei Erik Vandenburg genossen hatte, und dank zweier Jahrzehnte konsequenten Übens gab es in Molching niemanden, der so spielen konnte wie er. Es lag an seiner Art zu spielen – sie war nicht vollkommen, aber voller Wärme. In seinem Spiel vermittelten selbst falsche Noten ein gutes Gefühl.
Er heilhitlerte, wenn es von ihm verlangt wurde, und er hisste an den entsprechenden Tagen die Hakenkreuzfahne. Er bereitete niemandem irgendwelche Schwierigkeiten.
Dann, am 16. Juni 1939 (das Datum hatte sich in sein Gedächtnis zementiert), etwas mehr als sechs Monate nach Liesels Ankunft in der Himmelstraße, geschah etwas, das Hans Hubermanns Leben unwiderruflich veränderte.
Es war ein Tag, an dem er Arbeit hatte.
Er verließ das Haus um Punkt sieben Uhr morgens.
Er zog seinen Karren mit den Farbeimern und seinem Werkzeug hinter sich her und ahnte nicht, dass er verfolgt wurde.
Als er seine Arbeitsstelle erreichte, kam ein fremder junger Mann auf ihn zu. Er war blond und groß, und ernst.
»Sind Sie Hans Hubermann?«
Hans antwortete mit einem einsamen Nicken. Er griff nach einem Pinsel. »Der bin ich.«
»Spielen Sie zufällig noch Akkordeon?«
Diesmal hielt Hans in der Bewegung inne und ließ den Pinsel, wo er war. Wieder nickte er.
Der Fremde rieb sich das Kinn, schaute sich um und sprach dann ganz leise, doch überdeutlich verständlich: »Und sind Sie ein Mann, der ein Versprechen hält?«
Hans nahm zwei Farbeimer aus dem Karren und lud den Fremden ein, sich zu ihm zu setzen. Ehe er die Einladung annahm, streckte der junge Mann seine Hand aus und stellte sich vor. »Mein Name ist Walter Kugler. Ich komme aus Stuttgart.«
Sie saßen etwa eine Viertelstunde lang da und unterhielten sich leise. Dann verabredeten sie, sich später am Abend wieder zu treffen.
EIN GUTES MÄDCHEN
Im November 1940, als Max Vandenburg in die Küche der Himmelstraße 33 trat, war er vierundzwanzig Jahre alt. Seine Kleidung schien ihn zu Boden zerren zu wollen, und seine Müdigkeit war so vollkommen, dass ein Zusammenzucken ihn hätte zerreißen können. Er stand zitternd und erschüttert auf der Türschwelle.
»Spielen Sie immer noch Akkordeon?«
Aber in Wirklichkeit lautete die Frage: »Werden Sie mir helfen?«
Liesels Papa ging zur Haustür und öffnete sie. Vorsichtig streckte er den Kopf hinaus und schaute nach rechts und links. Dann kam er wieder ins Haus. Das Urteil lautete: »Alles ruhig.«
Max Vandenburg, der Jude, schloss die Augen und sank ein wenig tiefer in die Geborgenheit hinein. Die bloße Vorstellung eines sicheren Hafens war lachhaft, aber er gab sich ihr dennoch hin.
Hans versicherte sich, dass die Vorhänge ordentlich zugezogen waren. Kein Spalt durfte zu sehen sein. Während er sich an den Fenstern zu schaffen machte, hielt es Max nicht länger aus. Er kauerte sich nieder und faltete die Hände.
Die Dunkelheit streichelte ihn. Seine Finger rochen nach Koffer, Metall, Mein Kampf und Überleben.
Erst als er seinen Kopf hob, drang das schwache Licht des Flurs in seine Augen. Er bemerkte ein Mädchen in einem Schlafanzug, das dort in voller Größe stand.
»Papa?«
Max stand auf, als hätte man ihn mit einem Ruck an Schnüren hochgezerrt. Die Dunkelheit um ihn herum schwoll an.
»Alles in Ordnung, Liesel«, sagte Papa. »Geh wieder ins Bett.«
Sie zögerte noch einen Moment, ehe ihre Füße sie wieder davontrugen. Als sie noch einmal stehen blieb und sich einen letzten Blick auf den Fremden erlaubte, sah sie die Kontur eines Buches auf dem Tisch liegen.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, hörte sie Papa wispern. »Sie ist ein gutes Mädchen.«
Eine Stunde lang lag das gute Mädchen hellwach im Bett und lauschte dem leisen Gerangel von Stimmen in der Küche.
Es gab da noch eine unbekannte Größe.
EIN KURZER LEBENSLAUF EINES JÜDISCHEN FAUSTKÄMPFERS
Max Vandenburg wurde 1916 geboren.
Er wuchs in Stuttgart auf.
Als er jung war, liebte er nichts mehr auf der Welt als einen guten Boxkampf.
Seine erste Prügelei bestand er im Alter von elf Jahren. Damals war er so hager wie ein angespitzter Besenstiel.
Wenzel Gruber.
Das war der, gegen den er kämpfte.
Dieser Gruber hatte ein Schandmaul und drahtige Locken. Die Anwesenden auf dem Spielplatz forderten einen Kampf, und keiner der beiden Jungen steckte zurück.
Sie kämpften wie Champions. Etwa eine Minute lang.
Gerade als die Sache interessant wurde, zog ein wachsames Elternteil die Jungen an den Kragen auseinander.
Ein Rinnsal aus Blut tropfte aus Max’ Mund.
Er leckte es ab, und es schmeckte gut.
Nicht viele Leute aus seiner Nachbarschaft waren Kämpfer, und wenn doch, so kämpften sie nicht mit ihren Fäusten. In jenen Tagen sagte man, dass ein Jude es vorzog, einfach dazustehen und alles einzustecken, die Schimpfworte zu überhören und sich still und leise nach oben zu arbeiten. Offenbar waren nicht alle Juden gleich.
Er war fast zwei Jahre alt, als sein Vater starb, als er auf einem grasbewachsenen Hügel in Stücke geschossen wurde.
Als er neun war, war seine Mutter bankrott. Sie verkaufte die Musikschule, in der sie gleichzeitig wohnten, und zog mit ihrem Sohn ins Haus des Onkels. Dort wuchs er mit sechs Vettern auf, die ihn ärgerten, verprügelten und liebten. Die Prügeleien mit Isaak, dem Ältesten, waren das frühe Training für seine späteren Faustkämpfe. Er wurde beinahe jeden Abend verdroschen.
Mit dreizehn traf ihn die nächste Tragödie: Sein Onkel starb.
Sein Onkel entsprach, anders als Max, dem Klischee: Er war kein Heißsporn, sondern ein stiller Mensch, der hart arbeitete und wenig verdiente. Er war in sich gekehrt und opferte sich für seine Familie auf. Er starb an etwas, das in seinem Bauch wucherte. Etwas wie eine giftige Kegelkugel.