Sie lächelte müde, aber zufrieden. „Viele Aspekte des Tempels bleiben Außenstehenden verborgen.“ Ihr Gesichtsausdruck wurde ernster. „Ist dir etwas passiert?“
„Mir geht es gut, allerdings befürchte ich, dass Krasus und ich umsonst hierher gekommen sind. Ich habe vergeblich versucht, Cenarius zu kontaktieren. Mit seiner Hilfe wollte ich ein Flugtier finden, das den Magier ins Land der Drachen bringt.“
„Rhonin und Brox haben so etwas angedeutet. Glaubt er wirklich, er könne sich mit Drachen treffen?“
Der Druide sah zu Krasus, dem zwei Schwestern dabei halfen, sich aufzurichten. Sie behandelten ihn mit dem gleichen Respekt, den ihm viele andere entgegenbrachten, ohne so genau zu wissen, warum sie es taten. Der Magier ging zu den Überresten des Hundemeisters. Seine Miene spiegelte Überraschung wider.
„Du siehst ihn doch selbst und spürst das Besondere in ihm, Tyrande. Ich glaube, er könnte es schaffen, sollte er in ihr Reich gelangen.“
„Aber wenn ihn kein Drache dorthin bringt, wird ihm die Reise wohl kaum rechtzeitig gelingen.“
„Ich weiß nicht. Ich – “ Ein Schatten glitt über ihn hinweg. Malfurion sah auf. Seine Hoffnungslosigkeit verflog.
Sie kreisten drei Mal um die Gruppe, dann landeten sie in der Nähe eines Nachtsäblers. Die große Katze zischte, versuchte sie aber nicht anzugreifen, so als wäre sie selbst nicht sicher, was eigentlich vor ihr hockte.
Ihre Flügel waren groß und gefiedert, ihre Köpfe erinnerten an Raben. Mit ihren geschuppten und klauenbewehrten Vorderläufen sahen sie aus wie pechschwarze Gryphons. Der Rest ihres Körpers war jedoch nicht der eines Löwen, sondern wirkte amphibienhaft, inklusive eines kräftigen, haarlosen Schwanzes.
„Hippogriffs“, erklärte der scheinbar allwissende Krasus. Er wirkte zufrieden. „Sichere und schnelle Flieger. Cenarius hat eine hervorragende Wahl getroffen.“
Tyrande wirkte nicht so begeistert. „Wieso sind sie zu zweit?“
Der Magier und der Druide sahen einander an. Beiden war klar, weshalb Cenarius nicht nur ein Flugtier geschickt hatte.
„Anscheinend soll ich Krasus begleiten“, sagte Malfurion.
Tyrande nahm seinen Arm. „Nein, nicht dorthin!“
„Der Waldgott hat eine gute Entscheidung getroffen“, unterbrach Krasus sie. „Der Druide kann die Hippogriffs besser anleiten, und durch seine Verbindung zu Cenarius wird auch die Königin der Roten ihn willkommen heißen… Alexstrasza, sie, die das Leben ist…“
Die Priesterin sah Malfurion flehentlich an, doch er musste dem Magier beipflichten. „Er hat Recht. Ich muss ihn begleiten. Vergib mir, Tyrande.“ Impulsiv umarmte der Druide die Priesterin. Tyrande zögerte, dann erwiderte sie die Umarmung. Malfurion sah sie an und fügte hinzu: „Ich befürchte, dass du Rhonin und Brox helfen musst, unsere Abwesenheit zu erklären. Wirst du das für mich tun?“
Sie ergab sich in das Unvermeidliche. „Natürlich werde ich das. So gut solltest du mich kennen.“
Die Hippogriffs krächzten, als könnten sie kaum noch den Beginn ihrer Reise erwarten. Krasus ließ sich davon anspornen. Als Malfurion auf sein Flugtier gestiegen war, blickte er noch einmal zurück zu Tyrande.
Sie ergriff sein Handgelenk und flüsterte etwas. Erst nach einem Moment erkannten die beiden Reiter, dass die Priesterin Elunes Segen über Malfurion aussprach.
„Gute Reise“, sagte sie schließlich leise. „Und komm gesund zurück… für mich.“
Der Druide schluckte. Seine Stimme versagte. Krasus unterbrach die angespannte Situation, indem er sein Tier sanft nach vorne trieb. Das Hippogriff krächzte und setzte zum Start an. Malfurions Flugtier folgte ihm instinktiv.
„Leb wohl und danke, Tyrande“, sagte er. „Ich werde bald zurück sein.“
„Darauf verlasse ich mich, Mai!“
Er lächelte, als sie seinen alten Spitznamen benutzte. Dann musste er sich hastig an dem Hippogriff festhalten, denn es stieg steil in die Lüfte empor, um seinem Gefährten zu folgen.
„Das wird eine lange Reise“, rief Krasus. „Doch dank des Waldgottes nicht so lang, wie befürchtet.“
Malfurion nickte, ohne wirklich zuzuhören. Sein Blick kehrte zu der Gestalt zurück, die rasch kleiner wurde. Sie sah ebenfalls zu ihm hinauf, und so betrachteten sie einander, bis sie sich nicht mehr sehen konnten.
Und selbst dann wandte er seinen Blick nicht ab. In seinem Herzen wusste er, dass Tyrande nichts anderes tat.
11
Die Dämonen sammelten sich nicht zu einem weiteren Angriff. Die Nachtelfen hielten das für ein vielversprechendes Zeichen, aber Rhonin und Brox waren sich nicht so sicher. Ravencrest schenkte seinen Soldaten noch einen zweiten Abend Ruhe, und obwohl die beiden Fremden die Notwendigkeit dafür einsahen, wussten sie auch, dass die Brennende Legion in dieser Zeit nicht untätig bleiben würde. Archimonde würde jede verstreichende Sekunde nutzen, um seine Pläne voranzutreiben.
Die Nachtelfen waren nicht gerade erfreut, als sie entdeckten, dass Krasus und Malfurion verschwunden waren. Jarod zog ein Gesicht, als erwarte er seine Hinrichtung, und das aus gutem Grund. Die so dringend benötigten Zauberer hatten seiner Verantwortung unterstanden… und waren dennoch praktisch vor seinen Augen verschwunden.
„Lord Ravencrest wird mich deswegen häuten lassen“, murmelte der ehemalige Wachoffizier immer wieder, während er und die anderen auf das Zelt des Adligen zugingen. Tyrande, die Malfurion vor kurzem begegnet war, hatte darauf bestanden, mitzukommen, um die Angelegenheit zu erklären. Doch das beruhigte Jarod keineswegs. Er war sich sicher, dass seine Nachlässigkeit eine schreckliche Strafe nach sich ziehen würde. Schließlich hatte er zugelassen, dass zwei der wertvollsten Kämpfer nun der Streitmacht fehlten.
Und tatsächlich schien zu Beginn alles darauf hinzudeuten, dass der bärtige Kommandant genau wie erwartet reagieren würde. Als Lord Ravencrest die Nachricht hörte, stieß er einen furchtbaren Schrei aus und warf voller Wut einen kleinen Tisch um, auf dem sich Karten und Papiere stapelten.
„Ich habe ihnen eine solche Dummheit nicht erlaubt!“, schrie der Herrscher von Black Rook. „Sie gefährden die Einsatzkraft meiner Streitmacht mit diesem Irrsinn! Wenn der Feind erfährt, dass zwei unserer wichtigsten Zauberer uns verraten – “
„Sie haben niemanden verraten“, protestierte Rhonin. „Sie holen Hilfe.“
„Von den Drachen? Diese Kreaturen würden sie eher umbringen, als ihnen helfen. Das Haustier des Zauberers war zwar unter seiner strengen Führung zu gebrauchen, aber wilde Drachen…“
„Die Drachen sind das älteste und intelligenteste Volk unserer Welt. Sie wissen mehr, als wir jemals erfahren werden.“
„Klar, weil sie uns fressen werden, bevor das passiert“, konterte Ravencrest. Er sah Tyrande an. Sein Tonfall wurde respektvoller. „Und welche Rolle spielt eine Schwester der Elune bei dieser Geschichte?“
„Wir haben uns schon einmal getroffen, Mylord.“
Er kniff die Augen zusammen. „Ah, ja. Du bist Illidans Freundin.“
Der Zauberer, der ruhig neben dem Adligen stand, nickte. Sein Gesichtsausdruck zeigte keine Regung.
Ravencrest verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich hatte gehofft, dass wenigstens einer von euch Einfluss auf Malfurion haben würde. Ich weiß, dass niemand Meister Krasus Befehle erteilen kann.“
„Malfurion wollte zurückkommen“, sagte die Priesterin, „aber sein Lehrer machte deutlich, dass er den Zauberer begleiten solle.“
„Sein Lehrer? Glaubst du etwa auch an diesen Blödsinn über den Halbgott Cenarius?“
Tyrande spitzte die Lippen. „Illidan weiß, dass der Herr des Waldes wirklich existiert.“
Illidans emotionslose Fassade bröckelte. „Das ist wahr. Cenarius existiert. Ich habe ihn gesehen.“
„Hmpf, zuerst Drachen und jetzt ein Halbgott… All diese Macht und Magie um uns sollte die Streitmacht stärken, nicht schwächen! Aus welchem Grund schließt sich dieser Cenarius uns nicht an?“
„Er und sein Volk bekämpfen die Dämonen auf ihre Weise“, antwortete sie.