„Aber doch bist du hier.“
„Ich bin hier mit einem Drachen, der Euch gut kennt, einem Drachen namens Krasus.“
„Sein Name ist bekannt, auch wenn sein Geisteszustand Zweifel aufwirft. Was ist mit ihm?“
„Er erbittet eine Audienz bei Alexstrasza. Er kann die Barriere, die diese Berge umgibt, nicht durchbrechen.“
Während Malfurion sprach, musste er sich stark auf den Aspekt konzentrieren. Ysera drohte immer wieder zu verschwinden, als sei sie nicht mehr als eine Ausgeburt seiner Phantasie. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, nur die Augen unter ihren Lidern bewegten sich ständig. Malfurion war sich sicher, dass sie ihn sehen konnte, aber es hätte ihn interessiert, wie ihre Wahrnehmung funktionierte.
„Die Barriere wurde errichtet, da unsere Pläne von höchst delikater Natur sind“, sagte der Aspekt. „Nichts davon darf nach draußen dringen, bis die Zeit reif ist… das sagt der Erdwächter.“
„Aber er muss Zugang – “
„Aber den bekommt er nicht. Auf diese Angelegenheit habe ich keinen Einfluss. Ist das alles?“
Malfurion dachte an Krasus’ Worte. „Wenn er durch Euch mit Alexstrasza sprechen könnte…“
Ysera lachte. Die Veränderung war so überraschend, dass der Nachtelf erstarrte. „Du unverschämte, sterbliche Kreatur! Ich stelle deine Verbindung dar, da meine Schwester nicht unterbrochen werden darf. Gibt es sonst noch etwas, das du begehrst, wo du schon einmal dabei bist?“
„Bei meinem shan’do, Cenarius, allein um dies bitte ich Euch, und das tue ich nur, weil es nicht anders geht.“
Etwas Merkwürdiges geschah, als er den Namen des Halbgottes erwähnte. Ysera wurde durchsichtiger als zuvor, und die Augen unter ihren Lidern schienen nach unten zu blicken. Die Reaktion war zwar kurz, aber deutlich zu erkennen.
„Ich sehe keinen Grund, diese irritierende Unterhaltung fortzusetzen. Geh zu deinem Begleiter, Nachtelf, und – “
„Bitte, Herrscherin des smaragdfarbenen Traums! Cenarius kann für mich bürgen. Er – “
„Es gibt keinen Grund, ihn zu erwähnen“, stieß sie hervor. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie tatsächlich die Augen öffnen. Ihr Gesichtsausdruck war Malfurion aus seiner Kindheit vertraut. Anfangs hatte er geglaubt, Ysera sei einmal Cenarius’ Geliebte gewesen. Doch das stimmte nicht, das las er in ihrem Gesicht.
Ysera – die Herrscherin der Träume und einer der großen Aspekte – hatte auf den Namen des Halbgottes wie eine liebende Mutter reagiert.
Etwas beschämt zog sich der Druide von ihr zurück. Ysera schien in einer alten Erinnerung gefangen zu sein, denn sie ignorierte ihn. Zum ersten Mal ärgerte sich Malfurion über Krasus. Er hätte ihm sagen müssen, was hinter seinem Ratschlag steckte.
Er wollte das Traumreich verlassen, aber Ysera sah ihn aus geschlossenen Augen an und sagte. „Ich werde die Brücke sein, über die du Alexstrasza erreichen kannst.“
„Mylady…“
„Du wirst kein Wort mehr über diese Situation verlieren, Nachtelf, oder ich werde dich auf ewig aus meinem Reich verbannen.“
Malfurion schloss den Mund und gehorchte. Ihre Beziehung zu dem Herrn des Waldes war offensichtlich lang und tiefgehend gewesen.
„Ich werde deinen Geist zu unserem Treffpunkt führen, und ich werde dir sagen, wenn du mit meiner Schwester sprechen darfst. Erst dann werde ich deine Worte an sie überbringen – deine und seine.“
Der eisige Tonfall, mit dem sie das letzte Wort aussprach, verriet, wie wütend sie über Krasus war. Der Druide hoffte, dass der Ratschlag seines Gefährten nicht für sie beide den Tod bedeuten würde und nickte wortlos.
Sie streckte ihre Hand aus. „Ergreife sie.“
Respektvoll folgte Malfurion ihrer Aufforderung. Er hatte noch nie einen anderen Geist in der Traumwelt berührt und wusste nicht, was ihn erwartete. Zu seiner Überraschung fühlte sich Yseras Hand wie die einer Sterblichen an. Sie wirkte nicht geisterhaft. Er hätte auch die Hand seiner Mutter halten können.
„Denke an meine Warnung“, sagte der Aspekt.
Bevor der Nachtelf antworten konnte, zog sie ihn bereits in die Welt der Sterblichen. Der Übergang erfolgte abrupt und gleichzeitig so sanft, dass er einen Moment brauchte, um seine Umgebung zu erkennen. Erst dann sah er, dass Ysera verschwunden war.
Nein, sie war nicht verschwunden. Sie stand nur einige Schritte entfernt, hatte aber jetzt ihre wahre Gestalt angenommen. Vor Malfurion erhob sich ein gewaltiger Drache mit glitzernden grünen Schuppen. Korialstrasz, der einzige andere Drache, den der Druide je gesehen hatte, war weitaus kleiner als sie.
Doch sie war nicht allein. Das entdeckte der Nachtelf, als er sich umsah. Drei weitere riesenhafte Drachen standen neben ihm in der großen Kammer. Der Rote musste Alexstrasza sein, die Königin, nach der Krasus suchte. Sie wirkte ebenso schön und würdevoll wie Ysera, gleichzeitig aber auch lebendiger. Neben ihr stand ein männlicher Drache, dessen Schuppen offenbar je nach Laune silbrig oder bläulich schimmerten. Er wirkte beinahe schon amüsiert.
Der gewaltige schwarze Drache, den Malfurion als nächstes betrachtete, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Er strahlte eine geballte Macht aus, die Stärke der Erde… und mehr. Malfurion musste sich von dem schwarzen Riesen abwenden, weil sein Anblick Unwohlsein in ihm auslöste. Das lag nicht daran, dass zwei Drachen aus seinem Clan den Druiden und seinen Begleiter verfolgt hatten. Es lag an dem, was er ausstrahlte.
Malfurion hatte sich abgewandt, um ein wenig Ruhe zu finden, doch dafür hatte er die falsche Richtung gewählt, denn nun sah er, worauf die Drachen sich konzentrierten.
Sie war so klein, dass sie in seine Handfläche gepasst hätte. In der Tatze des Schwarzen wirkte sie wie ein Staubkorn.
„Seht ihr?“, brummte der Schwarze. „Sie ist bereit. Wir warten nur noch auf den richtigen Moment.“
„Und wann wird dieser Moment kommen?“, fragte Alexstrasza.
„Jeden Tag zerstören die Dämonen das Land. Wenn die Kommandanten der Legion sich nicht auf die Nachtelfen konzentrieren würden, wären die anderen Reiche bereits verloren.“
„Ich verstehe deine Sorge… aber die Drachenseele sollte erst eingesetzt werden, wenn die Himmel miteinander übereinstimmen. So muss es sein.“
Der rote Aspekt betrachtete die goldene Scheibe. „Dann wollen wir beten, dass sie all deine Erwartungen erfüllt, Neltharion. Lasst uns dafür beten, dass sie unsere Welt errettet.“
Der Schwarze nickte. Malfurion wartete auf Yseras Zeichen und betrachtete währenddessen neugierig die Scheibe. Seine Hoffnung nahm zu. Die Drachen handelten. Sie hatten eine Lösung gefunden, einen Talisman, der Kalimdor vor der Brennenden Legion retten würde.
Seine Neugier gewann die Oberhand. Er schwächte seine Verbindung zu Ysera und hoffte, dass sie zu abgelenkt war, um zu bemerken, was er tat. Mit seinem Geist griff er nach der goldenen Scheibe, die so unscheinbar wirkte, aber doch mit solcher Kraft gefüllt war, dass selbst die Drachen beeindruckt wirkten. Dagegen mussten auch die Dämonen hilflos sein…
Ein Schutzzauber umgab die Drachenseele. Als der Druide sie untersuchte, fiel ihm etwas Merkwürdiges auf. Jeder große Drache hatte seine eigene Aura – so wie jedes Wesen –, und jetzt spürte Malfurion einige dieser Auren. Er spürte zuerst die von Ysera, dann Alexstraszas und die des Blauen. Die Aura des schwarzen Drachen war ebenfalls vorhanden, aber nicht auf die gleiche Weise. Seine schien mit denen der anderen verbunden zu sein, als kontrolliere er sie. Es wirkte auf den Druiden, als solle der Zauber die anderen davon abhalten, etwas im Inneren der Scheibe wahrzunehmen.
Malfurions Neugier stieg. Er benutzte Cenarius’ Lehren, um in den Zauber einzudringen. Es fiel ihm leichter, als er erwartet hätte. Wahrscheinlich hatte der Schöpfer der Scheibe nie damit gerechnet, dass ein Druide versuchen würde, ihn zu überlisten. Malfurion drang tiefer ein und berührte schließlich die Kräfte im Kern der Scheibe.