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»Aber nein.«

»Dann sind wir uns also einig.«

Aber noch ehe Jones anfangen konnte, öffnete sich die Tür und Mrs Hudson huschte mit einem Tablett herein, auf dem Rosinenbrötchen, Tee, ein kleiner Teller mit Butter und ein Mohnkuchen angerichtet waren. Der Page musste sie über mein Eintreffen informiert haben, denn es standen drei Tassen bereit. Holmes dagegen kam zu einem anderen Schluss. »Wie ich sehe«, sagte er, »haben Sie dem Charme des Straßenmusikanten nicht widerstehen können, der unseren Hauseingang zu seiner Bühne gemacht hat, Mrs Hudson.«

»Das stimmt, Mr Holmes«, gab die gute Frau errötend zu. »Ich habe die Musik gehört und eine Zeitlang von einem der oberen Fenster aus zugeschaut. Ich wollte ihnen eigentlich sagen, sie sollten verschwinden, aber das Hündchen war so lustig und die Zuschauer waren so vergnügt, dass ich’s mir anders überlegt habe.« Sie verzog das Gesicht. »Ich weiß aber wirklich nicht, was Sie auf meinem Teetablett gesehen haben, was Ihnen das verraten hat.«

»Nicht weiter wichtig«, sagte Holmes lachend. »Der Tee sieht hervorragend aus, und wie Sie sehen, ist sogar unser Freund Watson gekommen, um ihn zu genießen.«

»Und das ist eine große Freude, Sie mal wieder zu sehen, Dr. Watson. Ohne Sie ist das Haus nicht mehr dasselbe.«

Ich wartete, bis Mrs Hudson gegangen war, aber dann musste ich doch fragen. »Sie werden mir vergeben, Holmes«, sagte ich. »Aber ich verstehe wirklich nicht, wie Sie aus einem Teller Rosinenbrötchen und einem Kümmelkuchen zu so weitreichenden Schlussfolgerungen gelangt sind.«

»Keins von beiden war sonderlich aussagekräftig«, erwiderte Holmes. »Es war vielmehr die Petersilie, die Mrs Hudson auf die Butter gelegt hat.«

»Die Petersilie.«

»Sie ist erst vor einer Minute dort hingelegt worden. Die Butter dagegen hat sie schon früher aus der Speisekammer geholt. Sie hat offenbar in der Sonne gestanden, denn sie ist sogar ein bisschen geschmolzen bei dieser Wärme.«

Ich warf einen Blick auf die Butter. Es stimmte tatsächlich.

»Die Petersilie ist aber nicht in die Butter eingesunken, was den Verdacht nahelegt, dass Mrs Hudson bei der Wahrnehmung ihrer Haushaltspflichten unterbrochen worden ist und eine Pause eingelegt hat. Abgesehen von der Ankunft meiner beiden Besucher aber waren die Musik, der Mann mit dem Hündchen und der Applaus der Zuschauer die einzige Ablenkung.«

»Erstaunlich!«, rief Jones.

»Im Gegenteil«, erwiderte Holmes. »Einfach nur elementar. Der größte Teil meiner Arbeit beruht auf solchen Beobachtungen. Aber wir haben Dringenderes zu tun. Inspektor, bitte erzählen Sie uns, was Sie hierherführt. Kann ich Sie dazu bewegen, mein lieber Watson, unterdessen den Tee einzuschenken?«

Dazu war ich natürlich gern bereit, und während ich mich ans Werk machte, begann Athelney Jones mit seinem Bericht, den ich wie folgt wiedergebe:

»Heute Morgen wurde ich in ein Haus in Primrose Hill in Nord-London gerufen. Das Haus gehört einem kinderlosen älteren Ehepaar, einem gewissen Mr Abernetty und seiner Frau, die dort allein leben. Sie waren in der Nacht von einem Geräusch aufgewacht, das wie brechendes Holz klang, waren vom oberen Stockwerk heruntergekommen und sahen sich einem schwarz gekleideten jungen Mann gegenüber, der in ihren Sachen herumwühlte. Der Mann war ein Einbrecher. Daran kann wohl kein Zweifel bestehen, denn wie ich bald feststellen sollte, war er auch in zwei andere Häuser in derselben Straße eingedrungen. Als er Harold Abernetty im Morgenrock in der Tür stehen sah, stürzte sich der Eindringling auf ihn und hätte ihm ernsten Schaden zufügen können. Aber es sollte anders kommen; Abernetty hatte einen Revolver mit heruntergebracht, den er stets in seiner Nähe aufbewahrte, weil er schon immer befürchtet hatte, dass so etwas passierte. Er gab nur einen einzigen Schuss ab, der den jungen Mann auf der Stelle getötet hat.

Das alles habe ich von Mr Abernetty selbst erfahren. Er ist ein völlig harmloser alter Bursche, scheint mir. Seine Frau ist ein paar Jahre jünger. Sie saß in einem Sessel und schluchzte fast die ganze Zeit. Ich erfuhr, dass sie das Haus von seiner früheren Besitzerin, einer gewissen Mrs Matilda Briggs, geerbt haben. Sie hat es ihnen wegen der langen, treuen Dienste geschenkt, die das Ehepaar ihr geleistet hat. Die Abernettys haben dort seit sechs Jahren friedlich und ohne Zwischenfälle gelebt. Sie sind im Ruhestand und gläubige Mitglieder der örtlichen Kirchengemeinde. Ein solideres Ehepaar kann man sich kaum vorstellen.

Dies also sind die Besitzer des Hauses. Lassen Sie mich jetzt den Toten beschreiben. Der Mann war ungefähr dreißig, würde ich sagen, hohläugig und von blasser Gesichtsfarbe. Er trug einen Anzug und schlammbespritzte Lederschuhe. Die Schuhe waren von besonderem Interesse für mich. Zwei Tage vor dem Einbruch hatte es nämlich geregnet, und als ich in den Garten ging – die Abernettys haben ein kleines Stück Land hinter dem Haus –, fand ich sehr bald Fußabdrücke des Mannes. Er war offensichtlich um das Haus herumgegangen und durch die Küchentür eingebrochen. Ich fand auch das Stemmeisen, das er benutzt hatte. Es war in einem Koffer, den er mitgebracht hatte. Darin lag auch seine bisherige Beute.«

»Und was genau hat dieser junge Mann den ältlichen, aber harmlosen Abernettys gestohlen?«, fragte Holmes.

»Mr Holmes, Sie haben mal wieder ins Schwarze getroffen! Genau das ist der Grund, weshalb ich hier sitze.«

Jones hatte einen Handkoffer mitgebracht, der wohl dem Toten gehört hatte, wie ich vermutete. Er klappte ihn auf und nahm behutsam, ohne jeden theatralischen Effekt, einige Porzellanfiguren heraus, die er vor uns aufbaute. Es waren drei identische, ziemlich primitive Darstellungen unserer Monarchin, Königin Victoria, der Kaiserin von Indien. Jede war ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter hoch und bunt bemalt. Man sah ein feierliches Gewand, eine kleine Diamantenkrone, einen Schleier aus Spitze und eine Schärpe über der Brust. Holmes untersuchte sie und nahm jede einzelne kurz in die Hand. »Zur Erinnerung an das Goldene Thronjubiläum«, murmelte er. »Es gibt kaum einen Laden in London, wo diese Dinger nicht verkauft werden, und soviel ich weiß, sind sie ziemlich wertlos. Sie stammen offenbar aus drei verschiedenen Häusern. Die erste gehört einer nervösen und ziemlich schlecht organisierten Familie mit mindestens einem Kleinkind. Die zweite war im Besitz eines Künstlers oder Juweliers, der die Jubiläumsfeierlichkeiten mit seiner Frau besucht hat. Deshalb stammt die dritte wohl von den Abernettys selbst.«

»Sie haben vollkommen recht, Mr Holmes«, rief Jones. »Die Abernettys wohnen in Nummer sechs, am Ende der kleinen Häuserzeile. Meine Ermittlungen haben ergeben, dass in derselben Nacht auch in zwei Nachbarhäusern eingebrochen wurde: bei den Dunstables in Nummer fünf und bei Mrs Webster in Nummer eins. Mrs Webster ist verwitwet, ihr Mann war Uhrmacher, und das andere Haus wird tatsächlich von einer Familie mit zwei kleinen Kindern bewohnt. Sie sind gegenwärtig verreist. Aber woher haben Sie das gewusst? Die Figuren sind doch alle drei gleich.«

»Das ist einfach genug«, erwiderte Holmes. »Sie sehen, dass die erste Figur schon seit einiger Zeit nicht mehr abgestaubt worden ist und genau solche kleinen, klebrigen Fingerabdrücke zeigt, wie sie ein Kind hinterlässt, das unsere Monarchin als Spielzeug benutzt hat. Die zweite ist mal zerbrochen und sehr geschickt repariert worden – vermutlich von ihrem Besitzer, und der hätte sich diese Mühe wohl kaum gemacht, wenn der Tag des Jubiläums keine besondere Bedeutung für ihn gehabt hätte. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er mit seiner Frau dort gewesen ist – seiner jetzigen Witwe. Wollen Sie übrigens sagen, Inspektor, dass außerdem nichts gestohlen worden ist?«

»Genau deshalb bin ich hier, Mr Holmes. Als ich in das Haus am Primrose Hill kam, dachte ich, es ginge um einen einfachen Einbruchsdiebstahl, der allerdings auf tragische Weise missglückt war. Was ich stattdessen fand, war ein unergründliches Rätsel. Warum sollte ein junger Mann seine Freiheit – und am Ende sein Leben – aufs Spiel setzen, bloß um drei Porzellanfiguren zu stehlen, die, wie Sie ganz richtig sagen, überall in London für ein paar Shilling zu haben sind? Ich muss die Antwort auf diese Frage finden, und deshalb habe ich mir – eingedenk unserer früheren Bekanntschaft – die Freiheit genommen, hierherzukommen. Ich hoffe, dass Sie mir vielleicht helfen können.«