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Die Amazone war erst vor wenigen Tagen von dem Wundfieber genesen, das sie sich durch eine schlecht gesäuberte Wunde geholt hatte, und auch Oberst von Blautann hatte seine Verletzungen noch nicht ganz auskuriert. Die Stadt selbst glich einem riesigen verletzten Körper. Nach Osten hin gab es immer weniger intakte Dächer; die Gerippe verkohlter Giebel zeichneten sich wie die Knochen großer Tierkadaver gegen den Himmel ab.

In einer halben Stunde würde die Sonne aufgehen, und schon begann sich das seltsame Zwielicht über den Himmel auszubreiten, in das die Welt getaucht wird, wenn die Nacht noch nicht ganz gewichen ist und das Praiosgestirn noch hinter dem Horizont verborgen liegt. Langsam erhellte das milde, gelbe Licht von Öllampen und Kerzen die ersten Fenster. Viele Häuser waren jetzt überbelegt, denn mit dem Wechsel der Jahreszeiten war es in den Nächten empfindlich kühl geworden. Auch jene, die zunächst noch darauf beharrten, in den Ruinen ihrer ausgebrannten Heime zu wohnen, hatten einsehen müssen, daß ein Leben ohne Dach über dem Kopf auf Dauer nicht möglich war.

Anders als bei den Lebensmittelbeschlagnahmungen vor einigen Wochen verhielten sich die Bürger der Stadt nun vernünftiger. Sie hatten begriffen, daß in dieser Lage ein Überleben nur noch möglich war, wenn man die kleinlichen Familienfehden zumindest für die Dauer der Belagerung begraben konnte. Man war also enger zusammengerückt, um entschlossener den Orks zu trotzen.

Mehr Sorgen bereitete Marcian die Versorgung der Einwohner mit Lebensmitteln. Bei dem Angriff der Orks waren zwei bis unter die Dächer gefüllte Vorratshäuser abgebrannt, und schon vorher hatte die Lage alles andere als günstig ausgesehen. Marcian rechnete nicht mehr damit, daß die kaiserlichen Truppen vor dem nächsten Frühjahr versuchen würden, einen großen Schlag gegen die Orks zu führen. Wahrscheinlich hatten schon im Rondra Hunderte von Bauern die Armee verlassen, um rechtzeitig zu Hause die Ernten einzubringen. Damit wäre das Heer zu klein, um es selbst mit einem geschwächten Sadrak Whassoi aufzunehmen.

Wahrscheinlich hatten selbst die regulären Truppen schon längst ihre Winterquartiere bezogen und lieferten sich mit den Orks allenfalls noch kleine Scharmützel.

Sollte dem so sein, dann war Greifenfurt verloren. Mit den Lebensmitteln, die sie jetzt noch hatten, mochten sie selbst bei strengster Rationierung allenfalls noch drei Monate durchhalten. Die Offiziersessen, die zu Anfang der Belagerung üblich gewesen waren, hatte Marcian nun ganz eingestellt. Es wäre schlecht für die Moral der Bürger, wenn sie miterleben müßten, wie sich ihre Anführer jede Nacht den Bauch vollschlugen, während sie selbst am Hungertuch nagten.

Langsam wurde es heller, und Marcian konnte im Morgendunst bis zu den Stallungen der Orks weit vor der Ostmauer blicken. Ob sie wohl auch Probleme mit der Versorgung hatten? Vermutlich würden sie regelmäßig mit Wagenkolonnen aus dem Norden versorgt. Zum Glück hatten sie noch keine weiteren Truppen erhalten. Überhaupt verhielten sie sich in ihrer ganzen Belagerungsstrategie sehr ungewöhnlich.

Der Inquisitor hatte Berichte über den Kampf um Lowangen gelesen, das zu Beginn der Orkkriege ein Jahr lang von den Schwarzpelzen belagert worden war. Damals hatten sie kaum über Geschütze verfügt und sich auch nicht annähernd so geschickt erwiesen wie diesmal. Manchmal hatte er den Eindruck, daß ihr Vorgehen sorgfältig auf dem Reißbrett ausgearbeitet wurde. Selbst jetzt, wo ihre Truppen zu schwach für einen direkten Angriff auf die Mauern waren, verstanden sie es, das Beste aus ihrer Lage zu machen. Sie gruben sich immer weiter ein und machten ihr Lager winterfest. Immer wieder schossen sie mit Katapulten in die Stadt, so daß man nie ganz sicher sein konnte, ob man nicht zum Opfer eines aus dem Himmel stürzenden Felsbrockens wurde, wenn man auch nur eine Straße überquerte. Vermutlich war all das dem Hirn des verräterischen Zwergen entsprungen, der seine Dienste an die Schwarzpelze verkauft hatte und der ihm schon mehrfach die Erdwälle der Orks inspiziert hatte.

Obwohl er sich seinen Umhang um die Schultern geschlungen hatte, war Marcian kalt geworden. Fröstelnd rieb er sich die Arme. Im Moment konnte er ohnehin nichts für die Stadt tun, also würde er sich den Luxus gönnen, noch einmal in sein Bett zurückzukehren. Cindira hatte in ihrem unruhigen Schlaf wieder das Wildschweinfell aus dem Bett geworfen. Noch einmal deckte er sie zu, dann kroch er unter Leinentuch und Fell und schmiegte sich an ihren warmen Körper.

Am liebsten wäre er jetzt weit fort von hier. Vielleicht in einer kleinen Hütte in einem Land, in dem Frieden herrschte. Schmerzhafte Bilder stiegen aus seiner Erinnerung auf. Er mußte einiges in seinem Zusammensein mit Cindira ändern. Er hatte ihr großes Unrecht getan und sie verletzt. Wieder einmal hatte ihm seine eigene Eitelkeit im Weg gestanden, doch diesmal würde er zu der Frau halten, die er liebte. Er würde der Inquisition nie wieder ein Opfer bringen. Wieder dachte er an die glücklichen Tage in der Hütte am Wald und lauschte dabei auf den ruhigen Atem Cindiras.

»Du willst was?« Ungläubig starrte ihn Cindira an. »Sag das noch mal!« »Ich möchte, daß du dich jetzt anziehst, und dann gehen wir zusammen zum Haus der Therbuniten, um dort Lysandra und von Blautann zu besuchen.«

Marcian war irritiert. Er hatte damit gerechnet, Cindira eine Freude zu machen.

»Seit Wochen streiten wir darüber, daß du nicht wirklich zu mir stehst. Ich muß mich bei Nacht und Nebel hier zum Turm schleichen, um dich zu treffen, oder du besuchst mich in der ›Fuchshöhle‹ und tust so, als sei ich nicht mehr als eine Hure für dich, mit der man sich eine Nacht vergnügt, und jetzt willst du mit mir quer durch die Stadt marschieren. Was steckt dahinter?« Cindira war aus dem Bett gesprungen und stand ihm zitternd vor Wut und Kälte gegenüber.

»Ich hab eingesehen, daß du recht hattest. Machst du mir das jetzt zum Vorwurf? Los, komm zurück ins Bett und laß dieses kindische Gezanke.«

»Nichts werde ich lassen. Wenn du so mit mir redest, beweist du nur, daß du mich immer noch nicht ernst nimmst. Also, was soll dieses Spielchen um traute Zweisamkeit? Ist dir die Meinung der Spießbürger, um die du dich bisher so aufopfernd bemüht hast, auf einmal gleichgültig?« Marcian musterte die kalten grauen Steine des Fußbodens und vermied es, Cindira anzuschauen. »Weißt du, vielleicht bleibt uns nicht mehr viel Zeit. Wenn ich ehrlich bin, steht es schlecht um die Stadt, und falls die Götter unseren Untergang beschlossen haben, möchte ich nicht mit einer Lüge sterben. Ich möchte endlich mit dir im Arm durch die Straßen gehen. Möchte mit dir die Läden der Goldschmiede und Schneider besuchen, dir etwas schenken und einfach nur glücklich sein. Es ist mir egal, wenn sich einige Bürger das Maul über mich zerreißen. — Ich will aus meiner Liebe zu dir keinen Tag länger mehr ein Geheimnis machen. Wir haben genug Spiele gespielt. Nun liegt Borons Schatten über uns, und die Zeit der Lügen ist vorbei.«

Bei den letzten Worten war Cindira wieder zu ihm ins Bett gestiegen. Sie nahm ihn in den Arm und streichelte ihm den Rücken, und während Marcian sein Gesicht in ihrem schwarzen Haar vergrub, flüsterte sie ihm ins Ohr: »Ich liebe dich, mein trauriger Held. Ich werde nie mehr von deiner Seite weichen.«