Zerwas hatte den jungen Ritter während der Rede nicht aus den Augen gelassen. Der Vampir war sich durchaus bewußt, daß er mit dieser Geschichte dick auf getragen hatte, doch sein Gegenüber glaubte ihm. Der Ritter war zutiefst beeindruckt.
»Wie lautet denn Euer Name?« fragte Zerwas in aufgeräumtem Tonfall. »Man nennt mich Roger von Duhan. Ich bin ein Neffe des Kronkommissars Marschall Duhan. — Doch nehmt Platz an meinem Feuer, Ritter Murlok. Ich bin froh, in dieser Nacht nicht alleine wachen zu müssen.« »Ihr habt recht, junger Freund. In dieser Wildnis alleine unterwegs zu sein ist wirklich kein Vergnügen. Warum habt Ihr nicht Rast in Hirschfurt gemacht? Dort hättet Ihr ein bequemeres Nachtlager haben können.«
»Sicher.« Roger stocherte mit einem langen Stecken im Feuer. »Doch wäre ich dann um einige Stunden später bei meinem Prinzen gewesen. Ich habe ihm eilige Botschaft zu bringen.«
Zerwas musterte den jungen Mann verstohlen aus den Augenwinkeln. Er war groß und muskulös gebaut, trug einen Küraß nach neuester Mode, an den sich eisernes Plattenzeug anschloß, das die Oberschenkel bedeckte. Seine Reitstiefel mit hohen Stulpen waren aus teurem Leder gefertigt. Statt eines Schwertes lag ein Reitersäbel mit kunstvoll verziertem Korb an seiner Seite. Unter dem Küraß trug der Junker eine lange Weste aus fein gewobener Wolle. Einige Rüschen ragten an Hals und Ärmeln unter der Weste hervor. Auf dem dunklen Mantel, den er dicht neben dem Feuer ausgebreitet hatte, lag ein schwarzer Schlapphut mit bunten Federn und breiter Krempe.
Der Junge hat in seinem ganzen Leben noch keine Not leiden müssen, dachte Zerwas. Er war nichts als ein Höfling, der darauf brannte, sich in der Schlacht zu bewähren. Was Krieg wirklich bedeutete, davon hatte der Edelmann keine Ahnung.
Wahrscheinlich war sein Vater für ihn eingetreten, so daß er bislang nur ungefährliche Botenritte ausführen mußte. Zerwas mochte wetten, daß Roger keine Ahnung hatte, warum er, als sich das ganze Heer auf die Schlacht bei Silkwiesen vorbereitete, mit einer dringenden Depesche nach Perricum reiten mußte.
Der Vampir forschte weiter in den Gedanken des jungen Mannes und lächelte. Ungefährliche Botenritte?
»Was amüsiert Euch, Ritter?«
»Oh, ich dachte daran, wie sehr ich in Eurem Alter auf mein erstes Gefecht brannte. Ich hatte gerade Mengbilla verlassen und war in die Khom geritten, um mich den Rebellen anzuschließen ...«
»Und wie war es?« Roger hing ihm förmlich an den Lippen.
»Ob ihr mir glaubt oder nicht, als es anfing, habe ich mir in die Hosen gemacht. Wir mußten durch mörderisches Bogenschützenfeuer reiten, und rechts und links von mir stürzten die Krieger getroffen vom Pferd. Mich selbst traf ein Stein am Helm. Mir wurde schwarz vor Augen, und die Schlacht war für mich zu Ende, noch bevor ich den ersten Schwerthieb geführt hatte.«
»Wie schrecklich!«
Wie konnte man nur so naiv und gutgläubig sein. Ein Wunder, daß der bei seinen Botenritten noch keinen Strauchdieben unter die Messer gekommen war, dachte Zerwas. Roger hatte wirklich Mitleid mit diesem Gecken Murlok, den er gerade erfunden hatte.
»Doch dann seid ihr sicher bald ein großer Krieger geworden. Ihr tragt eine prächtige Rüstung! Darf ich den Zweihänder einmal sehen, den Ihr dort neben Euch niedergelegt habt?«
»Sicher.« Zerwas reichte ihm die Waffe herüber und ließ Roger nicht aus den Augen, während dieser ehrfürchtig die Waffe musterte.
»Ihr brennt sicher darauf, in Eure erste Schlacht zu reiten?« fragte der Vampir.
»O ja, ich hoffe, daß man mich auch noch mal gegen die Schwarzpelze ziehen läßt, bevor sie alle wieder aus dem Reich vertrieben sind. — Manchmal glaube ich, mein Onkel sorgt dafür, daß ich nie bei einer Schlacht dabei bin. Meine beiden Brüder sind am Nebelstein gefallen ... Mutter hat alles getan, um zu verhindern, daß ich auch in den Krieg ziehe.« Der junge Mann sah nicht vom Schwert auf. Zerwas spürte, wie Roger einen inneren Kampf ausfocht. Er wollte seine Mutter nicht ängstigen, doch fühlte er sich auch verpflichtet, den Tod seiner Brüder zu rächen. Daß er dabei selber sterben könnte, kam ihm nicht in den Sinn.
»Habt Ihr denn keine Angst vor dem Tod, mein junger Freund?« Zerwas rückte näher und legte dem Ritter seinen Arm um die Schulter.
»Natürlich nicht, was denkt Ihr denn von mir? Ich würde mit Freuden für meinen Prinzen mein Leben geben!«
»Den Wunsch kann ich dir erfüllen ...«
Zerwas packte den Jungen fester.
»Was tut Ihr, Murlok«, schrie der Ritter auf und versuchte, sich verzweifelt zur Wehr zu setzen, doch den Kräften des Vampirs war er nicht gewachsen.
»Ich mache dir eine Freude!« höhnte der Vampir. »Hast du nicht gerade noch gesagt, du würdest gerne für deinen Prinzen dein Leben geben?« Zerwas lachte. Dann gruben sich seine Fänge in die weiße Kehle des jungen Ritters.
Er genoß den kurzen Augenblick, den das feste Muskelfleisch seinem Biß widerstand ... Und dann das süße Fließen des Blutes ... Köstlich, mit welcher Kraft es durch die Adern des Ritters pulsierte.
Roger wehrte sich nur noch schwach.
Zerwas wußte, daß er sich beherrschen mußte. Würde er Roger zuviel Blut nehmen, wäre er nicht mehr für seine Pläne zu gebrauchen.
Langsam ließ er den leblosen Körper aus seinen Armen gleiten.
Ein dünner Faden Blut floß aus der kleinen Wunde am Hals des Ritters. Seufzend stand Zerwas auf und ging zu seinem Schwert. Dann stellte er sich breitbeinig über den jungen Mann. Mit beiden Händen umklammerte der Vampir ›Seulaslintan‹. Roger hatte seine Augen so verdreht, daß nur noch das Weiße zu sehen war.
Ob er wohl noch bei Bewußtsein war? Ob er sehen konnte, was jetzt geschah?
Zerwas rammte mit aller Kraft sein Schwert in das weiche Erdreich. Dann kniete er nieder und nahm die Hand Rogers, um sie um den Griff der Waffe zu legen. Doch der Ritter hatte zu wenig Kraft. Immer wieder glitt seine Hand kraftlos zu Boden; der Vampir mußte sie schließlich mit zwei dünnen Lederriemen festbinden.
Als Zerwas sich überzeugt hatte, daß die Hand des Ritters nun nicht mehr abrutschen konnte, legte er seine Stirn auf den Knauf der Waffe, umklammerte sie selbst mit beiden Händen und öffnete sich den dunklen Kräften ›Seulaslintans‹.
Als der Vampir wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden. Das Feuer war herabgebrannt.
Mühsam richtete er sich auf. Noch immer hatte er den leicht metallischen Geschmack von Blut im Mund. Er griff nach dem Handgelenk des Mannes in der schwarzen Rüstung, dem Körper, der einmal die Heimat seiner dunklen Seele war.
Er war steif und kalt. Kein Blut pulste mehr in seinen Adern.
Die Umwandlung war abgeschlossen! Nun mußte er nur noch den Leichnam verschwinden lassen.
Der Vampir zog das Schwert aus dem Boden. Welch wunderbare Kräfte diese Waffe doch besaß. Dann starrte er wieder zu dem Toten, der einst Zerwas gewesen war. Für einen Moment zögerte er. Dies war der Körper, mit dem er sein neues Leben begonnen hatte. Der Körper, der Sartassas streichelnde Hände gefühlt hatte.
Der Vampir erschauderte ...
Dann verscheuchte er die trüben Gedanken. Unnütze Sentimentalitäten! Schließlich war dies auch der Körper, den Mardan kannte und auf den alle Inquisitoren des Reiches Jagd machen würden, sollte Marcian aus Greifenfurt entkommen.
In blitzenden Bogen ließ der Vampir das Schwert niedersausen. Er wußte nicht, ob die Enthauptung notwendig war, nachdem er diese Hülle verlassen hatte, doch er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Jetzt war Zerwas endgültig tot. Es lebe Ritter Roger!
Durch die Kraft ›Seulaslintans‹ hatte er alle Erinnerungen des toten Ritters in sich aufgenommen. Er wußte nun um dessen erste große Liebe, um den tragischen Unfalltod des Vaters und Tausende anderer Dinge, die das Leben des Ritters geprägt hatten.