»Sag ihm, ich bin im Büro. Wenn er nicht kommen will, kann er gern draußen bleiben und weiter von einem Bein aufs andere treten. Falls er es sich aber anders überlegt, führ ihn bitte zu mir.«
Eine Minute später erschien der Nachkomme ukumbrischer Piraten in der Tür meines Büros.
»Ich wollte mich nur bei Ihnen bedanken, Max. Alles ist sehr gut gelaufen. Das ist für Sie«, sagte er und zog ein Fläschchen aus der Tasche. »Das ist nicht irgendein alter Wein - der stammt noch aus dem Keller meines Großvaters.«
»Ist er noch aus Piratenzeiten oder aus den Beständen des Ordens der Grünen Monde? Wie dem auch sei - vielen Dank!«
»Woher wissen Sie das mit den Piraten und dem Orden der Grünen Monde?«
»Ich arbeite schließlich beim Kleinen Geheimen Suchtrupp! Warum hast du eigentlich nicht reinkommen wollen?«
»Hier gibt's einfach zu viele Bullen«, meinte Ande und blickte finster.
»Sag mal, wie willst du in der Zeitung über Verbrechen berichten, wenn du es nicht mal schaffst, das Gebäude der Stadtpolizei zu betreten?«
Ande schwieg. Ich gab ihm eine Tasse Kamra und bekam dabei eine Idee: »Hast du eigentlich einen Auftrag, oder bist du frei wie ein Vogel?«
»Ich muss entweder über Sie oder über den Kleinen Geheimen Suchtrupp schreiben. Aber das hat noch Zeit.«
»Prima. Ich fahre heute in den Wald von Mahagon, und du kommst mit. Ich reise in Gesellschaft einer netten Lady und einiger Polizisten, die du freilich Bullen zu nennen pflegst. So hast du Gelegenheit, dich an sie zu gewöhnen, und bekommst ein paar nette Eindrücke. Und wir haben Spaß mit dir. Später schreibst du einen Artikel über unseren gemeinsamen Sieg über die Räuberbande. Es sei denn, du wirst vorher erschossen - das Leben ist bekanntlich voller Überraschungen.«
»Soll das ein Witz sein?«, fragte Ande vorsichtig. »Die Bullen wollen bestimmt nicht, dass ich mitkomme.«
»Na und?«, fragte ich lächelnd. »Was denkst du, wie meine Beziehung zur Polizei aussieht?«
»Sie geben denen die Befehle, was?«, fragte Ande und begann langsam, die Zusammenhänge zu durchschauen. Nach seinen Erlebnissen mit der Polizei hatte der arme Junge offenbar die Einstellung, Bubutas Behörde sei die schlimmste und stärkste Kraft im Vereinigten Königreich. Diese Illusion musste ich ihm dringend rauben.
»Ja, ich gebe denen die Befehle. Also hab keine Angst. Wichtig ist nur, dass du auf dich aufpasst und dich auf keinen Streit einlässt. Und jetzt musst du dich entscheiden, ob du mitfahren willst oder nicht. Ich habe dir nur einen Vorschlag gemacht.«
»Gut«, sagte Ande und lächelte ein wenig. »Glauben Sie wirklich, ich stehe das durch?«
»Wenn ich das nicht glaubte, würde ich dir nicht Vorschlägen mitzukommen. Geh nach Hause und komm viereinhalb Stunden nach Mitternacht wieder. Deine Flasche trinken wir, wenn wir zurück sind. Ich hatte heute nämlich einen schweren Tag und muss morgen in aller Frühe A-Mobil fahren.«
»Aber ein Gläschen kann unmöglich schaden«, widersprach Ande.
»Doch, glaub mir. Ich brauche kühne und tapfere Leute um mich. Außerdem soll alles so sein, wie ich will, weil... nun ja, weil ich es will. Keine Sorge, Ande, wir trinken diesen guten Tropfen noch, aber später.«
Der Nachkomme von Köchen und Piraten verließ brav mein Büro. Seltsamerweise bat er mich nicht, ihn nach draußen zu begleiten. Das war bestimmt ein erster Schritt, zu einem guten Freund von Sir Max zu werden. Ich dachte mir, dass es eine gute Entscheidung war, diesen seltsamen Mann mitzunehmen. Er würde uns allen - vor allem aber mir - viel Spaß bereiten.
Am meisten aber freute ich mich darüber, Lady Melamori gegenüber in Gesellschaft von Ande Pu kein leuchtendes Beispiel mehr abgeben zu müssen. Ande war mir auf der Reise so unentbehrlich wie es Fruchtbonbons für jemanden sind, der sich das Rauchen abgewöhnt. Ich hoffte allerdings, dass Ande mir nützlicher sein würde als eine Tüte Drops.
Vier Stunden nach Mitternacht klopfte ich bei Melamori an der Haustür. In der Tasche hatte ich eine Flasche Kachar-Balsam, die ich aus Juffins Schreibtisch stibitzt hatte. Melamori öffnete sofort. Sie schien auf mich gewartet zu haben.
»Fahren wir schon?«, fragte sie ausgehfertig. Sie hatte ein müdes Gesicht - viel müder als sonst.
»Wie soll ich sagen ... Ich hatte damit gerechnet, dich aus dem Bett klingeln zu müssen. Jetzt haben wir noch etwas Zeit. Da können wir im Haus an der Brücke frühstücken. Ich hoffe, dir wird beim Wort Frühstück nicht übel. Immerhin hab ich das hier dabei«, sagte ich und reichte ihr die Flasche mit dem Kachar-Balsam.
»Vielen Dank, Max. Das ist sehr nett, denn ich habe keinen Tropfen mehr davon. Dumm, was?«
Melamori nahm einen kräftigen Schluck, und ihre Miene hellte sich deutlich auf.
»Gut, lass uns zum Haus an der Brücke fahren. Um diese Zeit kann man durchaus frühstücken.«
Im A-Mobil schwiegen wir. Allerdings dauerte unsere Fahrt auch nur drei Minuten. Ich raste wie ein Wahnsinniger, denn um diese Tageszeit waren die Straßen völlig leer.
Von unterwegs hatte ich mich im Fressfass gemeldet, und als wir ins Büro kamen, wartete das Frühstück schon im Korridor auf uns. Der Bote hatte sich nicht ins Büro von Sir Juffin und mir getraut. Melamori beschäftigte sich intensiv mit dem, was sie auf dem Teller hatte.
»Ich habe für unsere Expedition eine nette Überraschung«, sagte ich. »Ich hoffe, sie taucht bald auf.«
Auf die Schnelle erzählte ich Melamori die Geschichte des Piratennachkommen. Das war eine gute Idee, denn die hübsche Lady kicherte wie verrückt.
»Ich hab nur Angst, dass ich dem armen Sir Rogro keinen guten Dienst erwiesen habe. Ich wollte nur ein netter Mensch sein und jemandem etwas Gutes tun, dem das Schicksal übel mitgespielt hat.«
»Weißt du eigentlich, wer Rogro ist?«, fragte Melamori. »Er war Novize im Orden des Siebenzackigen Blatts und ein Held der Traurigen Zeit. Damals hat er an jedem Kampf teilgenommen, Hauptsache, es ging hoch her. Und dann, gleich am Anfang der Epoche des Gesetzbuchs, ist er für zehn Jahre im Cholomi-Gefängnis gelandet, weil er bei einer Prügelei unerlaubte Magie sechzehnten Grades benutzt hat. Aus dem Orden haben sie ihn auch geworfen, obwohl sie ihn wirklich mochten. Aber nicht mal seine Kriegsverdienste haben ihm dort noch helfen können. Na ja, und im Gefängnis ist er auf die Idee gekommen, eine Zeitung zu gründen. Dann hat er einen Brief an den König geschrieben, und der war begeistert. Das Gefängnis verließ er als geachteter Mann und Chefredakteur der von ihm gegründeten Königlichen Stimme. Bis dahin gab es in Echo keine Zeitung. Kannst du dir das vorstellen?«
»Seltsam ... Ich kann mir vieles aus der Welt wegdenken, aber Zeitungen nicht. Stammt diese Idee wirklich von ihm? Dann ist er ein Genie.«
»Ja«, nickte Melamori. »Es ist kaum zu glauben, aber früher waren Zeitungen gratis. Nur wenige Leute wussten etwas damit anzufangen, und der König kam für alle Unkosten auf. Später hatten sich die Leute so an die Lektüre gewöhnt, dass sie die Zeitungen auch kauften. Und vor einiger Zeit wurde der Trubel von Echo gegründet. Es heißt zwar, diese Zeitung würde von anderen Leuten herausgegeben, aber dahinter steckt Rogro - das kannst du mir glauben. Mein Vater ist mit ihm befreundet. Deshalb weiß ich das alles. Im Trubel von Echo stehen lauter Dummheiten, aber die Leute mögen das.«
»Vielen Dank für diese Informationen, Melamori. Juffin hat mir schon vor einiger Zeit empfohlen, mir die Akten von Sir Rogro anzuschauen. Offenbar hatte er mal wieder Recht.«
Melamori sah mich aufmerksam an und fragte vorsichtig: »Warum hast du eigentlich so plötzlich beschlossen, dass ich euch begleiten soll?«
Ich zuckte die Achseln.
»Erstens mache ich viele Dummheiten, die kein Mensch außer mir begehen würde. Zweitens sind wir auf deine Hilfe wirklich angewiesen, denn ich will nicht viel Zeit im Wald verbringen, sondern die Räuber schnell verhaften. Und drittens hab ich mir gedacht, ich könnte Kontakt zu dir aufnehmen, obwohl ich es eigentlich nicht darf. Außerdem finde ich, dass es auf der Welt viele spannende Herausforderungen gibt, auf die man sich einlassen sollte.«