»Warum staunst du denn so?«, fragte Sir Kofa. »Die Grafschaft Wuk liegt zwar sehr weit von der Hauptstadt entfernt, aber es gibt Leute genug, die gern reisen.«
Ich konnte meine Erleichterung nicht verbergen. Es ging offenbar nur um Bewohner der Grafschaft Wuk und der Leeren Länder. Juffin und ich hatten einen fiktiven Lebenslauf für mich gebastelt, demzufolge diese Gegend meine Heimat war. Ich vermute, keiner meiner Kollegen hat mir diese Herkunft je abgenommen, doch alle haben taktvoll dazu geschwiegen. Ich blieb für sie, wie ich war, also geheimnisvoll.
»Was hat mein Landsmann denn angestellt?«
Ehrlich gesagt interessierten mich seine kriminellen Machenschaften nicht die Bohne. Trotzdem versuchte ich, Interesse zu heucheln.
»Ach«, meinte Sir Kofa abwinkend, »nichts Besonderes. Sein Vergehen geschah aus Unwissenheit. Er hatte einen Ring am Finger, der es ihm erlaubte, die Gedanken anderer Leute zu lesen. In der Ordensepoche war das zulässig, und viele Bewohner von Echo besaßen so einen Ring. Zu Beginn der Epoche des Gesetzbuchs wurden diese Ringe auf Anordnung von König Gurig VH. eingezogen. In ihnen steckt Weiße Magie 24. Grades, also in unzulässig hoher Konzentration. Außerdem bedeutet das Tragen so eines Rings einen Verstoß gegen Artikel 108 des Chrember-Gesetzbuchs, der jedem Bewohner des Vereinigten Königreichs den Anspruch auf Geheimnisse zusichert. Deinem Landsmann war das angeblich nicht klar, und den Ring will er vor zweihundert Jahren von einem Freund bekommen haben. Ich vermute, dieser Freund gehörte zur fortgeschrittenen Fraktion der Jüngeren Magister. Es gab Zeiten, da haben solche Leute sich massenhaft im Vereinigten Königreich herumgetrieben.«
»Und was passiert mit meinem Landsmann?«, fragte ich.
»Nichts Schlimmes. Er wird sich von seinem Besitz trennen müssen, erhält dafür aber eine Entschädigung vom König. Und er wird dahin zurückgeschickt, woher er gekommen ist. Das Cholomi-Gefängnis ist ohnehin überfüllt.«
»Soll ich ihn vielleicht besuchen? Er ist immerhin mein Landsmann.«
Offen gestanden war ich ungemein neugierig, wie Personen, die in Echo als meine Landsleute galten, aussahen. Für wen hielt man mich in Echo, da man doch glaubte, ich stammte aus den Leeren Ländern?
»Du wirst dich mit dem Fall beschäftigen müssen«, sagte Sir Kofa, »denn der Mann ist nicht allein nach Echo gekommen, sondern mit einer Gruppe. Die braven Bewohner der Hauptstadt haben den Ankömmlingen natürlich gesagt, dass im Haus an der Brücke jemand aus ihrer Gegend tätig ist. Außerdem wissen sie, dass dieser Landsmann sich sehr weit hochgearbeitet hat. Ich glaube, der Trupp ist schon unterwegs zu uns. Ahnst du, was auf dich zukommt?«
»Das dürfte interessant werden«, sagte ich.
Zuerst belustigte mich die Aussicht, viele Leute aus den Leeren Ländern kennen zu lernen, dann aber dachte ich an die möglichen Folgen dieser Begegnung: Die Geschichte meiner Herkunft lief Gefahr, als Erfindung enttarnt zu werden.
»Ich glaube, ich sollte zuerst mit Juffin reden«, meinte ich finster.
»Das denke ich auch«, sagte Sir Kofa verständnisvoll. »Und entschuldige bitte, dass du wegen mir nicht in Ruhe hast essen können.«
»Macht nichts. Du kannst dir bei mir ohnehin mehr herausnehmen als anderemeinte ich, schob auf die Schnelle die letzte Pirogge in den Mund und stand auf.
»Du scheinst wirklich besorgt«, seufzte Melifaro. »Es tut weh, dich nur anzuschauen. Lass mich aber bitte nicht im Stich. Heute Abend fahren wir los.«
»Keine Sorge - ich verpasse nie eine Gelegenheit, mir kostenlos den Bauch vollzuschlagen. Außerdem weiß ich, wie gut bei euch zu Hause gekocht wird.«
»Wie zielstrebig du bist!«, rief Melifaro begeistert. »Es gelingt dir stets, dich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Erstaunlich, dass es sich dabei eigentlich immer um deinen Magen handelt!«
»So bin ich eben«, sagte ich stolz. »Lonely-Lokley hat mir Übungen gezeigt, die einem helfen, sich nicht in Kleinkram zu verzetteln. Wie man sieht, wirken sie wunderbar.«
Sir Juffin Halli saß in seinem Büro und versuchte, ernst zu wirken, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen.
»Und? Bist du darauf vorbereitet, deine Landsleute zu treffen?«, fragte er belustigt.
»Aber nein, das wissen Sie doch. Darauf werde ich nie vorbereitet sein. Außerdem war es Ihre Idee, mich aus den Leeren Ländern stammen zu lassen. Also müssen Sie mir helfen.«
»Keine Sorge. Wir dichten dir im Handumdrehen eine tolle Biografie an. Du bist eine Waise und kannst dich nicht an deine Eltern erinnern. Irgendein Großer Magister hat dich aufgezogen. Er hieß ..., er hat seinen Namen niemandem verraten, selbst dir nicht. Es gab Zeiten, da war so was unter Magistern völlig normal. Ihr habt zusammen in einem Häuschen gelebt, irgendwo in der Wildnis. Der alte Mann hat dir ein paar Zaubertricks beigebracht und ist dann leider gestorben. Du bist nach Echo gekommen, weil du wusstest, dass dort ein Freund deines Wohltäters lebt. Das reicht, denke ich.«
»Das ist wirklich eine wunderbar rührende Geschichte«, sagte ich begeistert. »Da kann man nicht meckern. Außerdem erklärt diese Biografie, warum ich mit meinen Landsleuten wenig am Hut habe. Und der frühe Tod des hypothetischen Großen Magisters ist eine prima Begründung dafür, warum ich so schlecht zaubern kann.«
»Siehst du! Jetzt brauchst du nur noch einen geeigneten Namen. Max passt nicht, denn so heißen die Leute dort nicht - so wenig wie die Bewohner von Echo übrigens. Und kein Mensch wird glauben, dass der Magister dir keinen Namen gegeben hat. So was tut man einfach nicht.«
»Dann denken wir uns eben einen aus«, meinte ich unbeschwert.
»Ein echter Name wäre besser. Kannst du dich wirklich an keinen erinnern? Du hast doch den dritten Band von Sir Manga Melifaros Enzyklopädie gelesen.«
»Das ist Jahre her! Aber warten Sie mal - einen Namen hab ich noch im Kopf: Fangachra aus Fangachra. Na bitte!«
»Fangachra?«, wiederholte Juffin nachdenklich. »Ja, dieser Name klingt wie aus den Leeren Ländern. Das hast du dir gut gemerkt. Und auch wenn er falsch wäre: Wir dürfen diese Provinzler nicht zu ernst nehmen. Wer sind sie denn, dass wir uns ihretwegen Gedanken machen sollten?«
»Eben. Am besten lassen wir es ganz sein und jagen sie zum Teufel!«
»Das geht nicht. Sie leben schon so weit weg, dass man sie nicht mehr zum Teufel schicken kann«, meinte Juffin lächelnd. »Außerdem müssen wir unsere Gäste gut behandeln und sogar hofieren, und zwar aus politischen Gründen, mein Junge. Weißt du, sie leben in einem umstrittenen Gebiet - auf der Grenze zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern. Und wie du dich erinnern dürftest, gehören die Leeren Länder weder zum Vereinigten Königreich noch zu einem anderen Staat. Ich brauche diese Gebiete nicht, aber Seine Majestät König Gurig VIII. hat eine Karte anfertigen lassen, auf der die Leeren Länder einen Teil unseres Königreichs darstellen. Es ist leicht, so eine Karte zu zeichnen, aber mit den Bewohnern der Leeren Länder um diese Kleinigkeit zu kämpfen wäre Unsinn. Deshalb ist die Verhaftung deines angeblichen Landsmanns eine Staatsaffäre. Wir werden ihn kurze Zeit bei uns behalten und dann freilassen, aber er wird in unseren Unterlagen als Bewohner des Vereinigten Königreichs auftauchen. Verstehst du, was ich meine?«
»Sie werden staunen, aber ich verstehe Sie genau. Sie wollen einen Präzedenzfall schaffen, wie man so schön sagt.«
»Donnerwetter - du bist wirklich klug!«, rief Juffin. »Vielleicht solltest du lieber am Königshof Karriere machen.«
»Wie denn? Die Leute dort wollen das nicht.«
»Du hättest Lust dazu, was?«, fragte mein Chef amüsiert. »Na schön, geh dich mit deinen Landsleuten unterhalten. Sie warten im Empfangszimmer. Danach kannst du mit Melifaro verschwinden.«
»Sie können mich nicht mehr sehen, was, Juffin?«
»Ich? Doch, auch wenn das seltsam klingt. Weißt du, warum ich bereit bin, dich fahren zu lassen? Ich möchte, dass du im Zimmer von Melifaros Großvater schläfst. Wenn du zurückkehrst, wirst du dich wie neugeboren fühlen. Und diese Erholung hast du dir verdient.«