»Wäre es nach meinem Willen gegangen ...«
»Ich weiß. Auch ich hätte es mir anders gewünscht. Wir sind schon seltsam, Max. Nichts läuft, wie wir es wollen.«
»Ja«, sagte ich nickend. »Das hab ich schon oft bereut. Und es quält mich noch immer.«
Melamori lächelte nachdenklich. »Vor unserer Fahrt in den Wald von Mahagon hab ich mir überlegt, dass wir das, was uns im Rendezvous-Viertel widerfahren ist, nicht so ernst nehmen sollten. Womöglich droht uns gar nicht der Tod! Vielleicht würden wir es überleben, uns dem Schicksal zu widersetzen. Womöglich sollten wir unserem Herzen folgen und auf alle Verbote pfeifen! Aber dann spürte ich wieder Angst und beschloss, alles zu lassen, wie es war. Ein Jahr ist eine lange Zeit, und ich habe gelernt, ohne dich und ohne Zweifel zu leben. Oder sagen wir besser: Ich habe es beinahe gelernt.«
Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Was für einen Dialog hatten wir uns da geliefert! Er passte nicht zu dem, was im Haus an der Brücke normalerweise auf dem Flur besprochen wird.
»Ich halte die Regeln, die für ein Treffen im Rendezvous-Viertel gelten, inzwischen nicht mehr für dummen Aberglauben«, sagte ich. »Und ich bin froh, dass wir am Leben sind. Das ist doch das Schönste, oder?«
Melamori nickte verlegen, und ich schwieg einen Moment.
»Das Einzige, was wir brauchen, ist Zeit«, meinte ich. »In den letzten zwei Jahren habe ich seltsame Dinge gelernt, Melamori, und vielleicht schaffe ich es sogar einmal, das Schicksal zu betrügen. Bitte halte das nicht für ein Versprechen, das ich bis zum Jahresende einlösen muss, aber ich bin sicher, dass ich es irgendwann schaffe. Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät.«
»Solche Dinge passieren entweder rechtzeitig oder nie«, sagte Melamori schroff. »Gut, Max, dass wir das geklärt haben. Aber sei mir nicht böse, wenn ich mich benehme, als hätte dieses Gespräch nicht stattgefunden. Ich habe keine Lust mehr, mit leerem Herzen zu leben. Mein Dasein soll fröhlicher sein. Das habe ich mir vorgenommen.«
»Und das wird dir auch gelingen«, versicherte ich ihr. »Und mir auch. Vielleicht hab ich es sogar schon geschafft.«
Melamori sah mich fragend an, schüttelte ihren kleinen, süßen Kopf und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb noch einen Moment an die Wand gelehnt stehen. Dann stieß ich mich von der Mauer ab und verließ das Haus an der Brücke.
Melifaro saß allein im Fressfass und wartete auf mich. Er machte einen ungeduldigen Eindruck.
»Wo hast du gesteckt, Max? Haben die Dunklen Magister dich mit einem Spezialauftrag losgeschickt? Oder hast du wieder in deinem alten Beruf gearbeitet? Wie viele Leute hast du bei dieser Gelegenheit umgelegt?«
»Viele. An die genaue Zahl erinnere ich mich nicht mehr«, erklärte ich ungerührt. »Aber entschuldige, mein Freund, ich war sehr beschäftigt. Ich hatte mit einer ganzen Organisation zu tun, und das war anstrengend.«
»Wovon redest du?«, fragte Melifaro erstaunt. »Ist das der berühmte, aber schwer zu kapierende Humor der Bewohner der Leeren Länder? «
»Nein, das sind Fakten, Fakten, Fakten. Unterwegs erzähle ich dir alles. Und wer weiß - vielleicht treffen wir auf der Landstraße sogar meine Untertanen. Wie hab ich es bisher nur ohne Hofstaat ausgehalten? Unbegreiflich!«
»Du machst heute ja seltsame Witze«, brummte Melifaro. »Komm, lass uns zuerst zu mir fahren. Ich muss noch packen.«
»Meine Untertanen sind viel klüger als wir, musst du wissen. Sie haben immer alles dabei, und zwar in Taschen, die sooo groß sind.«
Ich streckte die Arme so weit aus wie möglich - aus Nationalstolz kann man mitunter ganz schön übertreiben.
Melifaros Wohnung lag in der Straße der dunklen Wolken und erwies sich als groß und gut ausgestattet, aber total verwahrlost. Ich hatte den Eindruck, der Besitzer käme nur selten und einzig zum Schlafen vorbei. Beifällig stellte ich fest, dass Melifaro keine Diener hatte - so wenig wie ich.
»Wenn du was trinken willst, schau im Bücherregal nach. Vorgestern hab ich dort was gesehen«, sagte Melifaro unsicher und betrachtete sein Wohnzimmer mit dem Blick eines zufälligen Besuchers.
»Vielen Dank, aber ich muss noch A-Mobil fahren. Weißt du, bis jetzt war ich überzeugt, meine Wohnung sei die unordentlichste der Stadt, aber nun muss ich meine Lorbeeren an dich abtreten.«
»Tja, im Vergleich zu mir fehlt dir noch einiges«, antwortete Melifaro stolz.
»In einer Sache darfst du auch mal besser sein als ich«, meinte ich giftig, als er das Zimmer verließ.
Melifaro tat, als habe er diese Bemerkung nicht gehört, und überlegte sich in der Zwischenzeit eine passende Antwort.
Als er nach einer Minute zurückkehrte, schwenkte er eine große Reisetasche.
»Lass uns gehen, Max. Ich kann diesen Schweinestall nicht mehr ertragen. Aber in zwei Tagen wird es hier anders aussehen. Ich hab mich nämlich entschieden, deinem Beispiel zu folgen, und die Handwerker zum Renovieren bestellt. Sie haben mir gesagt, ich sei kein hoffnungsloser Fall.«
»Schön wär's! Übrigens gefällt es mir hier.«
»Tja, im Vergleich zu den Zelten deiner Landsleute sieht es ganz anständig aus. Du hast mir doch versprochen, von deiner Thronbesteigung zu erzählen. Wie ist das passiert?«
»Durch ein Missverständnis. Ich hatte den netten Leuten gesagt, ich hieße Fangachra, und es stellte sich heraus, dass dieser Fangachra ihr König war, den sie als Minderjährigen in der Steppe verloren hatten. Das ist die ganze Geschichte.«
Melifaro fiel die Kinnlade runter.
»Ist das dein Ernst? Willst du wirklich in die Leeren Länder zurück und ... ?«
»Ach was!«, unterbrach ich ihn gereizt. »Ich bin eine arme Waise, die in der Dunkelheit ihrer Erinnerungen den Weg verloren hat. Was für ein König soll ich denn sein!?«
Auf dem Weg zu meinem Haus schwieg Melifaro die ganze Zeit. Das entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartungen, doch ich vermutete, dass er die Neuigkeit erst mal verarbeiten musste. Allerdings dauerte die Fahrt zu mir auch nicht lange.
Unvorstellbar, aber wahr: In meinem Wohnzimmer faulenzten zehn hünenhafte Handwerker. Nur ihr Vorarbeiter wuselte herum, um fleißig zu erscheinen. Ärgerlich schüttelte ich den Kopf.
»Leute, fangt endlich mit der Arbeit an«, sagte ich. »Schließlich muss ich irgendwo wohnen.«
Die Handwerker verdrückten sich unauffällig, während der Vorarbeiter zu einer Rechtfertigung ansetzte. Er tat mir leid. An seiner Stelle hätte ich auch nur ungern mit einem Kunden geredet, der den Todesmantel trägt.
»Kein Grund zur Beunruhigung. Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben«, sagte ich seufzend. »Machen wir es so: Ihr renoviert schnellstmöglich die Wohnung, sagen wir binnen zwei Tagen, und ich zahle euch das Dreifache des vereinbarten Preises, weil ihr euch so sputen müsst.«
»Das ist doch gar nicht zu schaffen«, riefen die anderen Handwerker von der Flurtür her im Chor.
»Der Mensch weiß gar nicht, wozu er in Extremsituationen fähig ist«, meinte ich nur. »Und hier handelt es sich um eine Extremsituation - das könnt ihr mir glauben!«
Nach diesem rauschenden Auftritt ging ich nach oben und packte meine Reisetasche.
»Mein holdes Nachtantlitz, du hast wirklich königliche Manieren«, spottete Melifaro per Stummer Rede, als ich auf der Treppe war.
»Stimmt«, pflichtete ich ihm stolz bei.
Ella und Armstrong dösten auf meinem Bett. Ich suchte im Schrank schnell ein paar Sachen zusammen und nahm den erstbesten Lochimantel und die erstbeste Skaba mit, die mir in die Hände fielen. Ich glaubte, das würde für die Reise reichen. Dann ging ich rasch wieder runter, denn ich wusste, dass Melifaro nichts mehr hasste als zu warten.
Doch er war bester Laune und unterhielt sich angeregt mit dem Vorarbeiter der Handwerkertruppe.
»Er tötet sofort - das kann ich beschwören«, ließ er den erschrockenen Mann gerade wissen. »Das Schlimmste ist, dass er erst zur Besinnung kommt, wenn die Leute schon tot am Boden liegen. Deshalb beschwöre ich euch: Macht alles so, wie er es euch aufgetragen hat.«