»Oh nein. Die Nacht im Schlafzimmer Ihres Vaters war die erholsamste Nacht meines Lebens. Dieser Raum ist das Werk eines Genies.«
Die ältere Generation der Familie Melifaro nickte verständnisvoll.
»Was macht Ihr ehrwürdiger Ahne jetzt eigentlich?«, wollte ich wissen.
Ich war sicher, keine taktlose Frage gestellt zu haben. Der Schöpfer eines so genialen Zimmers konnte unmöglich einfach an Altersschwäche gestorben sein.
»Vermutlich sucht er im Jenseits seinen Großen Magister. Vielleicht hat er ihn sogar gefunden. Auf alle Fälle ist er dort bestimmt glücklich, denn die Reiselust liegt uns allen im Blut.«
»Bist du schon wach, Max?«, fragte Sir Juffin mich per Stummer Rede. »Ich fürchte, ihr zwei müsst euren Urlaub abbrechen. Offen gesagt muss ich euch noch vor Sonnenuntergang sehen.«
»Ich kann Ihren besten Mitarbeiter Melifaro sofort wecken«, sagte ich mit diebischer Freude. »Möchten Sie das?«
»Ich fürchte, das wird er nicht überleben. Lass ihn besser noch eine oder anderthalb Stunden schlafen, dann wecke ich ihn. Und du, Max? Hast du dich erholt? Geht es dir gut?«
»Erholung ist ein viel zu schwaches Wort dafür. Was ist eigentlich passiert? Warum müssen wir nach Echo zurück?«
»Bis jetzt ist nichts passiert, aber heute Abend kommt ein Schiff aus Arwaroch. Das wird für uns alle sehr spaßig. Also kommt bald zurück. Ende.«
Schuldbewusst sah ich Melifaros Eltern an. »Ich fürchte, ich habe eine unangenehme Nachricht für Sie. Sie müssen sich einen Tag früher als geplant von Ihrem jüngsten Sohn trennen.«
»Na wunderbar«, meinte Lady Melifaro erleichtert. »Zu den Magistern mit ihm! Wir haben sicher noch genug Zeit, mit ihm zu plaudern. Außerdem hat er versprochen, den furchtbaren Kerl aus Isamon mitzunehmen. Stimmt's, Manga?«
»Ja, das hat er versprochen«, rief Sir Manga fröhlich.
»Ich kenne ihn zwar nicht so gut, aber gestern Abend fand ich ihn ziemlich lustig«, wandte ich vorsichtig ein.
»Die ersten zwei, drei Tage hab ich das auch so gesehen«, pflichtete mir Sir Manga bei. »Aber spätestens am vierten Tag hab ich langsam gemerkt, dass er doch nicht so nett ist, wie ich anfangs dachte. Dann hab ich erfahren, dass die Diener das Haus verlassen wollen, bis er wieder weg ist, und auch mein ältester Sohn hat gegen diesen Gast rebelliert. Und ein paar Tage später bin ich selbst mit Mordgedanken durchs Haus gelaufen. Wissen Sie, Sir Max, ich fürchte, die Gebote der Gastfreundschaft können gefährlich sein. Ich spreche jetzt nicht nur von meiner Familie, sondern von allen gut erzogenen Menschen.«
»Aber Ihr Leiden endet doch demnächst«, tröstete ich ihn. »Ihr Gast fährt bald in die Hauptstadt. Und wenn er nicht will, werde ich ihn dazu zwingen. Das verspreche ich Ihnen. Ich kenne einen extra für solche Fälle gedachten Zaubertrick.«
Das war nicht gelogen, denn ich kann tatsächlich jeden Menschen zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand verschwinden lassen und ihn ans Ende der Welt schaffen.
Nach einer Stunde klopfte ich an Melifaros Schlafzimmertür.
»Wach auf, mein Herz! Wir müssen zum Dienst!«
»Zu welchem Dienst denn?«, fragte er müde. »Was redest du da? Du brauchst einen guten Heiler. Du bist bei mir zu Gast, und übermorgen fahren wir nach Echo zurück.«
»Juffin hat sich per Stummer Rede bei mir gemeldet und von einem Schiff aus Arwaroch gesprochen. Sagt dir das was?«
»Leider ja«, meinte Melifaro traurig. »Unser Urlaub ist also vorbei. Gut, ich komm gleich. Haben wir noch Zeit zu frühstücken?«
»Wir haben sogar noch Zeit zum Mittagessen. Hast du schon vergessen, wie schnell ich fahren kann?«
»Wenigstens dazu taugst du«, murmelte er. »Aber jetzt verschwinde, mein Freund. Ich muss mich herrichten.«
Ich tat gnädig, wie geheißen. Nach ein paar Minuten tauchte mein Kollege im Esszimmer auf. Er war zwar noch etwas nass vom Bad, sprühte aber vor Lebensfreude.
»Warum ist das Einlaufen des Schiffs aus Arwaroch eigentlich so wichtig?«, fragte ich Sir Manga und seinen Sohn, weil ich nicht wusste, wer von beiden in dieser Hinsicht der größere Experte war. »Liegt Echo etwa im Krieg mit Arwaroch? Oder wird dieses Land von Dunklen Magistern regiert, von denen wir das Schlimmste erwarten müssen?«
»Arwaroch ist zwar ein Imperium, doch ich bezweifle sehr, dass es dort Dunkle Magister gibt. Auch mit Magie kennen sich die Leute dort nicht aus, und ihr Großer Schamane wäre im Vereinigten Königreich allenfalls Prügelknabe einer Heilerin«, sagte Sir Manga achselzuckend.
Sein jüngster Sohn wollte dem unbedingt etwas hinzufügen, doch mit vollem Mund klappte das nicht.
Also setzte Sir Manga seinen Vortrag fort: »Arwaroch ist der am weitesten von Echo entfernte Kontinent und für meinen Geschmack eine recht seltsame Gegend. Die Menschen dort sind merkwürdig, haben eine eigenartige Religion und eine ganz ungewöhnliche Philosophie und Logik. Auch leben dort einzigartige Tiere und Pflanzen, und es gibt keine Metalle, doch diesen Mangel gleichen die Bewohner auf interessante Art und Weise aus. Aber das werden Sie bald mit eigenen Augen sehen. Wir liegen mit Arwaroch nicht im Krieg, und das ist auch besser für die Leute dort. Sie können sich nämlich mit dem Vereinigten Königreich ganz und gar nicht messen. Außer uns hat Arwaroch keinen ernsthaften Gegner. Darum bereitet besonders dieser Kontinent unseren Politikern immer wieder Kopfschmerzen. Würden das Vereinigte Königreich und der Orden des Siebenzackigen Blatts keine so vernünftige Politik betreiben, würden die dortigen Herrscher sich sicher von Echo unabhängig erklären. Sie haben sogar mal versucht, sich den Rest der Welt zu unterwerfen.«
»Sind diese Leute dann nicht gefährlich für uns?«, fragte ich.
Ich hatte keinerlei Lust, an einem Krieg teilzunehmen. Es wäre schrecklich, mit dem Babum durch die Gegend zu ziehen und nur ein Waschbecken mit heißem Wasser zur Verfügung zu haben.
»Aber Max, wir sind auf jeden Fall gefährlicher als sie. Niemand will, dass die Herrscher von Arwaroch ihre Macht dem Kalifat Kuman oder den Leuten in Isamon zeigen. Denn das hätte nur zur Folge, dass diese Länder eine Delegation zu uns schicken und den König um Hilfe bitten würden. Wir wären dann gezwungen, ein paar exzellente Spezialisten aus dem Orden des Siebenzackigen Blatts zu schicken, um die Leute aus Arwaroch in die Schranken zu weisen. Das würde viel Magie, viel Blutvergießen und viele Opfer bedeuten und wäre schlecht für das weltweite Gleichgewicht. Unsere Taktik ist es darum, den ewigen Rebellen von Arwaroch großen Respekt zu zeigen, ihnen aber auch zu verstehen zu geben, dass sie diesen Respekt nur genießen, solange sie ihre Kriege und Eroberungszüge auf den eigenen Kontinent beschränken. Soweit ich weiß, finanzieren wir noch immer ein paar Geheimagenten, Magister und Rebellen, um genau zu wissen, was in Arwaroch vorgeht. Außerdem lieben es die Leute dort, regelmäßig neue Nationalhelden auszurufen. Das gibt den Königen des Landes immer wieder viel zu tun. Sie führen ständig kleinere Kriege mit ihren Nachbarn, und das ist offenbar befriedigend für alle.«
»Ich verabscheue Politik«, seufzte ich. »Aber ich fürchte, niemand fragt nach meiner Meinung.«
»Das verstehe ich. Mich fragt auch niemand«, meinte Sir Manga lächelnd. Dann wandte er sich an seinen Sohn. »Vergiss bitte nicht, unseren anderen Gast mitzunehmen.«
»Wo ist er eigentlich?«, fragte Melifaro.
»In seinem Schlafzimmer. Ich glaube, er erholt sich noch. Deshalb ist es hier so ruhig.«
Es war keine leichte Aufgabe, Rulen Bagdasys zu wecken und ihm zu erklären, dass wir gleich losfahren würden. Der arme Melifaro brauchte über eine Stunde dafür und musste den Mann aus Isamon schließlich beinahe zum Frühstück herunterzerren.
»Wir dürfen einen Spross aus königlicher Familie doch nicht so lange warten lassen.«
Der arme Melifaro wies flüsternd mit dem Kopf auf mich. Erst sah ich ihn ratlos an, dann begriff ich, wovon er sprach.