Im Saal der allgemeinen Arbeit traf ich Melamori. Fürsorglich flößte sie einem jungen Mann, der einen Verband um den Kopf trug, Kamra ein, die sie im Fressfass bestellt hatte.
»Ah, der Sohn von Sir Warich Ariam«, begrüßte ich ihn freundlich. »Wie geht es Ihnen?«
»Noch vor kurzem hat es schlecht um ihn gestanden«, sagte Melamori. »Gut, dass du unbedingt getrennt von mir die Verfolgung aufnehmen wolltest, Max. Als ich ihn gefunden habe, war er beinahe tot. Aber wofür, wenn nicht für Wunder, haben wir Sir Juffin?!«
Der junge Mann nickte traurig, und Melamori fuhr fort: »Dieser Held aus Arwaroch - ich meine den Grässlichen Mudlach - hat Sir Warichs Sohn auf der Straße getroffen, ihm ohne Vorwarnung auf den Kopf geschlagen und ihn ins Gebüsch geworfen. Wahrscheinlich war er nervös oder wollte nicht, dass ihn irgendwer in Echo erkennt.«
»Sie haben Glück gehabt, Sir«, sagte ich. »Mudlachs Schlag hat Sie davor bewahrt, einen viel mächtigeren Kunden Ihres Vaters zu treffen. So gesehen ist es glimpflich für Sie ausgegangen.«
»Aber mein Vater tut mir leid«, seufzte der junge Mann. »Wir haben uns so gut verstanden. Ich möchte nur wissen, warum man ihn umgebracht hat.«
»Ihr Vater hatte einen gefährlichen Beruf«, sagte ich streng. »Nur selten wollen Menschen ihr Äußeres ändern, weil sie mit ihrem Kinn oder ihrer Nase unzufrieden sind. Gut, trinken Sie in Ruhe Ihre Kamra aus und erholen Sie sich dann zu Hause. Melamori, ich gehe zu Juffin. Ich hab was Besonderes für ihn«, sagte ich und hielt ihr meine Linke unter die Nase.
»Ist er da drin?«, fragte Melamori. »Toll. Juffin hat mir übrigens erlaubt, nach Hause zu gehen, Max. Ich mache mich jetzt auf den Weg. Gute Nacht!«
Bei Sir Juffin saß eine kleine, aber interessante Gesellschaft zusammen. Sir Kofa hockte in meinem Lieblingssessel. Melifaro schwang sich auf den Tisch und landete gefährlich nah bei dem Tablett, das ein Bote eben aus dem Fressfass gebracht hatte. Ich hatte den Eindruck, Melifaro würde mit offenen Augen schlafen, denn ich hatte ihn noch nie so schweigsam erlebt.
Ich goss mir eine Tasse Kamra ein und machte es mir auf der Fensterbank bequem.
»Was hast du denn bei Lady Sotowa gemacht?«, fragte Juffin ungeduldig.
»Nichts, was ich nicht auch der Presse erzählen könnte«, sagte ich lächelnd. Dann berichtete ich meinen Kollegen kurz von meiner Jagd nach dem Unbekannten.
»Ihr habt ihn also bewusstlos und ohne Turban im Gebüsch gefunden?«, fragte Juffin überrascht. »So ein Glück! Und jetzt zeig uns deinen Schatz.«
»Bitte schön!«
Ich schüttelte meine Linke, und der Mann landete zu Füßen von Sir Kofa, kam aber nicht zu Bewusstsein.
»Der sieht ja genauso aus wie Jorinmuk Wanzifis! Ich bin mir nicht sicher, ob Nuflin den Unterschied bemerken würde«, sagte Juffin verzückt. »Kofa, gib ihm bitte sein eigentliches Gesicht zurück. Das ist wirklich interessant.«
»Da haben Sie mir eine Nuss zu knacken gegeben«, murmelte Kofa. »Warich Ariam war einer der besten Verwandlungsmeister.«
»Du bist genauso gut. Keine falsche Bescheidenheit. Aber sorg dafür, dass er weiterschläft und uns keine Probleme macht. Wir sitzen hier so nett, trinken Kamra und knabbern Gebäck, und ich würde uns gern ein Abendessen bestellen. Dabei würde er nur stören.«
»Abendessen? Das ist eine gute Idee!«, sagte ich erfreut.
»Bitte Ruhe!«, rief Sir Kofa und beugte sich über den Unbekannten. Melifaro zuckte die Achseln und nahm in dem von Kofa geräumten Sessel Platz. Ich hatte den Eindruck, er sei gerade erst aufgewacht.
»Wo ist Sir Schürf?«, fragte Melifaro plötzlich.
»Vor einer halben Stunde nach Hause gegangen«, sagte Juffin. »Das solltest du auch tun. Du schläfst ja schon im Sitzen und im Stehen.«
»Ich hab geschlafen, und jetzt bin ich wach. Was soll ich zu Hause, wenn es hier gleich Abendessen gibt?«
»Dann bleib. Je mehr Leute sich mit einem spannenden Fall beschäftigen, desto glücklichere Erinnerungen habe ich.«
»Seht euch dieses Gesicht an!«, rief Sir Kofa und präsentierte uns stolz den Mann zu seinen Füßen. »Sir Juffin, den erkennen Sie doch, oder?«
»Das ist Hechta Bonbon, der ehemalige Große Magister vom Orden des flachen Bergs«, rief Juffin frappiert und musterte die hohlen Wangen und buschigen Augenbrauen des Mannes. »Das ist eine Sensation. Ich dachte, er hätte irgendwo in Uriuland eine Obstplantage und wüsste schon nicht mehr, dass es eine Hauptstadt namens Echo gibt. Ich bitte um Verzeihung, aber Sir Bonbon und ich müssen euch gleich verlassen. Das Abendessen schafft ihr sicher auch ohne uns. Ich muss unbedingt wissen, wie Hechta es geschafft hat, sich in die Burg zu schleichen.«
»Aber das erzählen Sie uns dann doch, oder?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Natürlich. Außerdem hast du ihn gefangen und sollst deshalb auch alles über ihn erfahren. Gut, ihr habt jetzt Zeit, das Leben zu genießen. Ich an eurer Stelle würde noch Lady Tuotli und Sir Blaki von der Stadtpolizei einladen. Die beiden haben in letzter Zeit viel für uns getan und langweilen sich bestimmt bei ihrem Bereitschaftsdienst.«
»Ich geh die beiden holen«, meinte Melifaro.
Ich wandte mich zu ihm um, sah aber nur noch seinen Mantel durch die Tür verschwinden.
Juffin zog den Großen Magister Hechta Bonbon behutsam vom Boden hoch und führte ihn wie ein betrunkenes Familienmitglied zum Ausgang.
»Gehen Sie mit ihm runter?«, fragte Sir Kofa.
»Wohin sonst!? Ihr denkt doch wohl nicht, dass Hechta uns seine Geheimnisse bei einer netten Tasse Kamra anvertraut? Ohne Magie bekommen wir nichts aus ihm heraus.«
Ich wusste, wovon er sprach: Im Keller des Hauses an der Brücke befindet sich ein kleines, ungemütliches Zimmer, das völlig isoliert ist. Dafür haben die Zaubersprüche von Sir Juffin und Nuflin Monimach gesorgt. In diesem Zimmer kann man sogar Magie höchsten Grades anwenden, ohne dass dadurch das Gleichgewicht der Welt bedroht wäre. Ich war nur einmal dort gewesen, als ich einen Kurs zur Anwendung Verbotener Magie besuchte, und hatte mich dort nicht gerade wohl gefühlt. Unser Büro reichte mir für meine Zwecke vollständig.
Kaum hatte der verschlafene Bote aus dem Fressfass uns ein üppig beladenes Tablett auf den Tisch gestellt, kehrte Melifaro in Gesellschaft des sympathischen Leutnants Apura Blaki zurück.
»Wo ist Lady Tuotli?«, fragte ich erstaunt.
»Sie hat uns einen kurzen, aber aufschlussreichen Vortrag darüber gehalten, wie unnötig Partys während der Arbeitszeit sind«, murmelte Melifaro beleidigt. »Soll die geheime Königin der Stadtpolizei doch zu den Dunklen Magistern gehen!«
»Keine Ahnung, was mit ihr los ist«, seufzte Apura Blaki. »Kekki ist nett und freut sich eigentlich, wenn sie eingeladen wird. Vielleicht ist sie krank.«
»Sie hat wohl mal wieder eine menschenscheue Phase. Es ist erschreckend, wie diese Scheu sie bremsen kann.«
Ich sprang von der Fensterbank. »Ich geh mal zu ihr. Melifaro, Bruderherz, wenn es mir gelingt, sie herzubringen, halt bitte den Mund, ja? Und wenn du etwas Böses sagen willst, sag es bitte mir. Ich kann viel ertragen. Strapaziere diese empfindliche Frau bitte nicht.«
»Seit wann bist du der Beschützer der Damenwelt?«, rief Melifaro erstaunt. »Ist das eine dauerhafte Metamorphose?«
»Das wird sich zeigen. Und vergreift euch ja nicht an meiner Portion!«
»Das werde ich verhindern, Max«, sagte Kofa, der offenbar auf meiner Seite stand.
Ich ging rüber zur Stadtpolizei. Auf Zehenspitzen schlich ich zu dem Büro, in dem früher der nette Hauptmann Schichola gearbeitet hatte, und lauschte ein wenig. Hinter der Tür war ein Schniefen zu hören. Ich beschloss, das Zimmer nicht zu betreten und mich stattdessen per Stummer Rede zu melden. Schließlich möchte niemand beim Weinen überrascht werden.
»Lady Kekki«, begann ich vorsichtig. »Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber Partys während der Arbeitszeit sind bei uns ganz normal - das können Sie mir glauben. Unter anderem deshalb mache ich weiter diesen verrückten Dienst.«