»In Ordnung«, sagte er. »Wohin?« »Geh hinunter und hole deine Sachen, du wirst warme Kleidung benötigen.
Wir treffen uns auf dem Dach. Dann nehmen wir den Gleiter und überlegen uns unterwegs, wohin wir fliegen.«
Dirk nickte und küßte sie rasch auf den Mund.
Sie befanden sich hoch über den dunklen Flüssen und sanften Hügeln des Freigeländes, als das erste zarte Rot der Morgendämmerung den Himmel zu überziehen begann. Wenig später erschien die erste gelbe Sonne, und die Dunkelheit unter ihnen wich einem grauen Morgennebel, der sich schnell auflöste. Gwen flog den Manta-Gleiter mit maximaler Geschwindigkeit, so daß der kühle Wind an der offenen Kabine laut vorbeirauschte und jede Verständigung unmöglich machte. Dirk hatte sich in einen braunen Patchwork-Überwurf, den er von Ruark bekommen hatte, gehüllt und schlief an ihrer Seite.
Als eine Stadt — Challenge — wie ein blitzender Speer am Horizont auftauchte, weckte sie ihn, indem sie sanft an seiner Schulter rüttelte. Er hatte leicht und unruhig geschlafen. Sofort setzte er sich auf und gähnte. »Wir sind da«, sagte er überflüssigerweise.
Gwen antwortete nicht. Während sie sich der Emerelistadt näherten, ging sie mit der Geschwindigkeit herunter.
Dirk sah dem Schauspiel der Morgendämmerung zu.
»Zwei Sonnen stehen am Himmel«, sagte er, »und fast kann man den Fetten Satan erkennen. Ich glaube, jetzt wissen sie, daß wir weg sind.« Er dachte an Vikary und Janacek, die zusammen mit den Braiths am Todesquadrat auf ihn warteten. Bretan würde zweifellos ungeduldig auf und ab gegangen sein und dabei sein seltsames Geräusch gemacht haben. Am frühen Morgen war sein Auge sicherlich kraftlos und kalt, ein ausgeglühtes Stück Kohle in seinem Narbengesicht. Vielleicht war er jetzt auch schon tot … oder Jaan … oder Garse Janacek. Einen Augenblick lang wurde Dirk rot vor Scham. Er rückte näher an Gwen und legte den Arm um sie.
Vor ihnen schwoll Challenge an. Gwen zog den Gleiter steil nach oben und durchstieß eine diesige Wolkenbank.
Der schwarze Schlund des Landedecks leuchtete auf, und als Gwen hineinflog, sah Dirk die Ziffern. Es war das 520. Stockwerk, eine große, unbenutzte und verlassene Schleuse.
»Willkommen«, ertönte es vertraut, als der Manta-Gleiter regungslos in der Luft verharrte und dann langsam auf die Bodenplatten hinabsank. »Ich bin die Stimme von Challenge. Darf ich Sie unterhalten?« Gwen schaltete den Antrieb ab und kletterte über den Flügel nach draußen. »Wir wollen für eine befristete Zeit Bewohner dieser Stadt werden.« »Der Preis dafür hält sich in Grenzen«, sagte die Stimme.
»Dann weise uns eine Wohngelegenheit zu.«
Eine Wand glitt zurück, und wieder rollte ein ballonbereifter Wagen auf sie zu. Bis auf die Farbe war er ein genaues Duplikat jenes Fahrzeugs, das sie bei ihrem letzten Besuch transportiert hatte. Gwen stieg ein, während Dirk ihr Gepäck vom Rücksitz des Gleiters auf den Wagen umlud: einen Sensorenkoffer, den Gwen mitgebracht hatte, drei Taschen mit Kleidern, ein Paket Geländeausrüstung für Unternehmungen in der Wildnis.
Die beiden Himmelsflitzer, komplett mit Flugstiefeln, lagen ganz unten, aber Dirk ließ sie im Gleiter.
Das Fahrzeug startete, und die Stimme begann, ihnen die verschiedenen Wohnquartiere anzupreisen, die sie anzubieten hatte. In Challenge gab es Zimmer, die in hundert verschiedenen Stilen eingerichtet waren, damit Außenweltler sich wie zu Hause fühlen konnten. Der Geschmack von pi-Emerel herrschte allerdings vor.
»Etwas Einfaches und Billiges«, verlangte Dirk.
»Doppelbett, Kochgelegenheit und eine Naßdusche werden ausreichen.« Die Stimme wies ihnen ein kleines Zimmer mit pastellblauen Wänden zu, das sich zwei Stockwerke über ihnen befand. In ihm stand ein Doppelbett, das den größten Teil des Raumes einnahm. Im Hintergrund gab es eine Kochnische und einen riesigen Farbbildschirm, der den Großteil einer Wand bedeckte.
»Echter Emereliglanz«, bemerkte Gwen beim Eintreten sarkastisch. Sie setzte den Sensorenkoffer und die Kleidertaschen ab und ließ sich erleichtert aufs Bett fallen. Dirk verstaute die Taschen hinter einer Schie-bewand, die einen Einbauschrank verdeckte. Dann setzte er sich zu Gwens Füßen auf den Bettrand und betrachtete den Wandschirm. »Eine große Auswahl Bibliotheksbänder steht zu Ihrer Unterhaltung bereit«, sagte die Stimme. »Es tut mir leid, Sie informieren zu müssen, daß das reguläre Festivalprogramm beendet ist.«
»Verschwindest du eigentlich nie?« schnauzte Dirk. »Zu Ihrer Sicherheit und Ihrem Schutz bleiben alle wichtigen Grundfunktionen eingeschaltet, falls Sie es aber wünschen, können meine Dienstfunktionen in ihrer Umgebung zeitweise desaktiviert werden. Einige Einwohner ziehen dies vor.« »Wir auch«, sagte Dirk.
»Desaktiviere dich.«
»Falls Sie es sich anders überlegen oder einen Dienst in Anspruch nehmen wollen«, sagte die Stimme, »drücken Sie einfach den mit einem Stern markierten Knopf auf einem Wandschirm in der Nähe, und ich werde Ihren Wünschen wieder nachkommen.« Danach verstummte sie.
Dirk wartete einen Moment. »Stimme?« rief er. Keine Antwort. Befriedigt nickend, machte er sich wieder an die Inspektion des Schirms. Hinter ihm war Gwen schon eingeschlafen. Sie lag mit angezogenen Beinen auf der Seite und hatte den Kopf auf den Oberarm gebettet.
Er wollte unbedingt Ruark anrufen und herausfinden, was beim Duell geschehen war, wer getötet wurde und wer lebte. Aber im Moment wagte er es noch nicht. Noch war die Lage zu unsicher. Einer der Kavalaren mochte sich in Ruarks Quartier oder im Arbeitsraum aufhalten, und ein Anruf konnte ihren Standort verraten. Er mußte warten. Bevor sie abgeflogen waren, hatte ihm der Kimdissi die Rufnummer eines verlassenen Appartements, zwei Stockwerke über seinem eigenen, angegeben und Dirk geraten, kurz nach Einbruch der Nacht diese Nummer zu wählen. Falls alles in Ordnung war, würde er dort sein und auf den Summton reagieren.
Wenn er nicht antwortete, war etwas Unvorhergesehenes passiert. So war es ausgemacht. Jedenfalls wußte Ruark nicht, wohin die beiden Flüchtlinge sich gewandt hatten.
Die Kavalaren würden keine Informationen aus ihm herauspressen können. Dirk war sehr müde. Trotz der kurzen Schlummerpause im Gleiter machte ihm die Erschöpfung, ergänzt um zentnerschwere Schuldgefühle, schwer zu schaffen. Endlich hatte er Gwen zurückgewonnen, aber er verspürte keinen Triumph.
Vielleicht würde das noch kommen, wenn seine anderen Sorgen geschwunden waren und sie miteinander wieder so vertraut verkehrten wie vor sieben langen Jahren auf Avalen. Möglicherweise war das aber erst der Fall, wenn Worlorn weit hinter ihnen lag, und mit diesem Planeten Jaan Vikary, Garse Janacek und alle anderen Kavalaren, dazu die toten Städte und sterbenden Wälder Vergangenheit geworden waren. Sie würden durch Templers Schleier stoßen, dachte er, während er auf den leeren Bildschirm starrte, den Rand ganz hinter sich lassen und nach Braque, Tara oder einer anderen geistig gesunden Welt reisen. Vielleicht sogar wieder nach Avalon oder noch weiter, nach Gulliver, Vagabond oder Alt-Poseidon. Es gab Hunderte, wenn nicht Tausende von Welten, die er noch nie gesehen hatte. Welten, auf denen Menschen lebten und Welten mit Nichtmenschen, fremdartigen Spezies, eine Vielzahl romantischer Planeten, auf denen noch nie jemand etwas von Hoch Kavalaan oder Worlorn gehört hatte. Endlich konnte er diese Welten besuchen — mit Gwen an seiner Seite.
Dirk fühlte sich unruhig, zum Schlafen zu müde und überhaupt nicht wohl in seiner Haut. Gelangweilt begann er, am Bildschirm herumzuspielen und probierte nach und nach dessen Funktionen aus. Wie am Tag zuvor in Ruarks Appartement in Larteyn, drückte er den Knopf mit dem Fragezeichen ein, und dieselbe Informationsliste erschien in dreimal so großen Buchstaben. Sorgfältig las er sie durch und prägte sich soviel wie möglich ein.