Möglicherweise konnte er so ein bißchen Wissen aufsau-gen, das sich als nützlich erweisen und ihnen weiterhelfen konnte.
In der Liste war auch die Abrufnummer für planetarische Nachrichten enthalten. In der Hoffnung, daß das morgendliche Duell in Larteyn bemerkt worden war und sich vielleicht in einer Todesanzeige nieder-schlug, gab er die Kennzahl ein. Doch der Schirm vor ihm wurde grau. Weiße Großbuchstaben verkündeten »DIENST EINGESTELLT« und flackerten stroboskopartig, bis er sie löschte.
Mißmutig wählte Dirk eine andere Ziffernfolge — die für Raumhafeninformation —, um Ruarks Angaben über das nächste Schiff zu überprüfen. Diesmal hatte er mehr Glück. Innerhalb der nächsten beiden Standardmonate standen drei Schiffe auf dem Flugplan. Das früheste würde, wie Ruark richtig gesagt hatte, in etwas mehr als zwei Wochen eintreffen. Es war eine Randfähre namens Teric neDahlir. Ruark hatte allerdings nicht erwähnt, daß das Schiff weiter zum Rand hinausflog. Es kam von Kimdiss und flog über Eshellin und die Welt des Schwarzweinozeans weiter bis pi-Emerel, seiner Ausgangswelt. Eine Woche später würde ein Ver-sorgungsschiff von Hoch Kavalaan eintreffen. Und dann kam nichts mehr, bis die Schaudern der Vergessenen Feinde mit Kurs auf das Innere der Galaxis zurückkehrte.
So lange jedoch konnten sie nicht warten, das stand außer Frage. Gwen und er würden einfach mit der Teric neDahlir fliegen und weiter draußen, auf einem anderen Planeten, umsteigen müssen. An Bord zu gelangen, würde das größte Risiko sein, darüber war sich Dirk im klaren. Die Kavalaren hatten praktisch keine Chance, sie hier in Challenge zu finden. Sie hätten den ganzen Planeten absuchen müssen. Aber Jaan Vikary würde sicherlich erraten, daß sie Worlorn so schnell wie möglich verlassen wollten. Das hieß, er konnte sie zu gegebener Zeit auf dem Raumhafen abfangen. Wie sie das verhindern sollten, wußte Dirk noch nicht. Er konnte nur hoffen, daß eine Konfrontation ausblieb. Dirk löschte die Schrift und probierte andere Zahlen aus. Er notierte sich, welche Funktionen bereits eingestellt, welche auf ein Minimum reduziert worden waren — zum Beispiel medizinischer Notdienst — und welche noch wie zur Zeit des Festivals bestanden. In anderen Städten funktionierte nicht mehr viel, Challenge dagegen hatte noch nicht kapi-tuliert. Den Emereli lag daran zu beweisen, daß ihre Turmstadt unsterblieh war, und so hatten sie — ungeachtet der kommenden Dunkelheit und des Eises — nahezu alles zurückgelassen. Hier ließ es sich leicht leben. Die anderen Städte boten ein vergleichsweise trauriges Bild.
In vier der vierzehn Enklaven war die Energieversorgung zusammengebrochen, und davon hatte eine so stark unter Wind und Wetter gelitten, daß man sie nur noch als Torso aus Ruinen und Staub bezeichnen konnte. Eine Zeitlang fuhr Dirk damit fort, Knöpfe zu drücken, aber schließlich wurde ihm dieses Spiel zu eintönig. Es war immer noch Morgen, und er durfte Ruark nicht anrufen.
Er schaltete den Wandschirm ab, wusch sich kurz, ging ins Bett und löschte die Lichtfelder. Es dauerte noch eine Weile, bevor er einschlief. Er lag in der warmen Dunkelheit, starrte an die Decke und lauschte Gwens regelmäßigen Atemzügen, aber in Gedanken war er weit weg und voller Sorgen.
Bald würde sich alles zum Guten wenden, sagte er sich, so wie es auf Avalon gewesen war. Und doch konnte er es nicht glauben. Er fühlte sich nicht wie der alte Dirk t’Larien, Gwens Dirk, der wieder zu werden er sich geschworen hatte. Statt dessen fühlte er sich, als hätte es keine Veränderung gegeben, er mühte sich müde und hoffnungslos weiter, wie es auf Braque und den Welten davor gewesen war. Seine Jenny war wieder bei ihm, und er hätte vor Freude an die Decke springen sollen -aber er nahm nur ein deprimierendes Gefühl wahr. Als hätte er sie schon wieder verloren.
Dirk wischte die trüben Gedanken gewaltsam beiseite und schloß die Augen.
Als er erwachte, war es später Nachmittag. Gwen war schon aufgestanden und geschäftig. Dirk duschte und kleidete sich in weiche, verwaschene Avalonsynthetik.
Dann gingen sie beide auf die Gänge hinaus, um das 522.
Stockwerk von Challenge auszukundschaften. Im Gehen hielten sie sich bei der Hand.
Ihr Zimmer war eines von Tausenden im hiesigen Wohnsektor des Gebäudes. Überall befanden sich andere Zimmer, die bis auf die Zahlen an den schwarzen Türen mit ihrem identisch waren. Die Fußböden, Wände und Decken der Korridore, durch die sie gingen, waren in satten Kobaltschattierungen gehalten, und die Lampen, die in gleichen Abständen von der Decke hingen — Kugeln, deren trübes Licht das Auge schonte —, paßten sich der Färbung an.
»Ist das langweilig«, sagte Gwen, nachdem sie einige Minuten gegangen waren. »Die Gleichförmigkeit ist niederschmetternd. Lagepläne oder Wegweiser sehe ich auch nicht. Mich wundert, daß die Leute sich hier nicht verlaufen.«
»Ich nehme an, man braucht nur die Stimme nach dem Weg zur fragen«, sagte Dirk.
»Ja, das habe ich ganz vergessen.« Sie runzelte die Stirn. »Was ist mit der Stimme los? In letzter Zeit hatte sie uns nicht viel zu sagen.« »Ich habe sie zum Schweigen gebracht«, erzählte Dirk. »Aber sie beobachtet uns noch.«
»Kannst du sie wieder zum Leben erwecken?«
Er nickte und hielt inne. Dann führte er sie auf die nächste schwarze Tür zu. Wie erwartet, war das Zimmer nicht bewohnt, und die Tür öffnete sich sofort bei seiner Berührung. Drinnen war alles vertraut — das Bett, die Einrichtung, der Bildschirm.
Dirk schaltete den Schirm ein, drückte den Knopf mit dem Stern und schaltete das Gerät wieder ab. »Kann ich Ihnen helfen?« fragte die Stimme.
Gwen lächelte ihn an, es sah ein bißchen gequält aus.
Wie es schien, war sie genauso verängstigt wie er. Neben ihren Mundwinkeln hatten sich Sorgenfalten gebildet.
»Ja«, sagte sie. »Wir wollen etwas tun. Unterhalte uns.
Vertreibe uns die Zeit. Zeig uns die Stadt.« Sie sprach ein wenig zu schnell, dachte Dirk, wie jemand, der sich hastig von unangenehmen Dingen ablenken will. , Er fragte sich, ob es die Angst um ihre Sicherheit war, die er heraushörte — oder Besorgnis um Jaan Vikary.
»Ich verstehe«, gab die Stimme zurück. »Dann darf ich Ihr Fremdenführer sein und Ihnen die Wunder von Challenge zeigen, jenem auf Worlorn wiedergeborenen Ruhm von pi-Emerel.« Dann wurden sie von ihr geführt.
Sie gingen auf die nächsten Aufzüge zu und verließen die endlos geraden Kobaltkorridore, rasten farbigeren und abwechslungsreicheren Regionen entgegen.
Sie ließen sich zum Olymp hinauftragen, einem mit Plüsch ausgekleideten Saal in der obersten Spitze der Stadt, und standen knöcheltief in einem schwarzen Teppich, während sie aus Challenges einzigem riesigen Fenster blickten. Tief unter ihnen zog eine dunkle Wolkenbank vorbei, getragen von schneidendem Wind, den sie nur ahnen konnten. Der Tag war trüb und düster, das Höllenauge brannte und stierte wie immer vor sich hin, aber seine gelben Kumpane hatten sich hinter grauem Dunst versteckt, der den Himmel überzog. Von hier aus konnten sie die weitentfernten Berge und das schwache Dunkelgrün des Freigeländes unter ihnen sehen. Ein Robotkellner servierte ihnen eisgekühlte Getränke.
Dann gingen sie zum Zentralschacht, einem Hohlzylinder, der von oben bis unten die Turmstadt durchbohrte und ihren Kern bildete. Auf dem höchsten Balkon stehend, hielten sie sich bei den Händen und sahen zusammen hinunter, vorbei an anderen Baikonen, deren nicht enden wollende Reihen sich in schwach beleuchtete Tiefen hinabschraubten. Dann öffneten sie das schmiedeeiserne Tor und sprangen Hand in Hand ab.
Langsam, im sanften Griff des warmen Auftriebs, schwebten sie nach unten. Der Zentralschacht war ein erholsames Fortbewegungsmittel. In ihm war die Schwerkraft so gering, daß man sie kaum noch Schwerkraft nennen konnte — weniger als 0,01 Prozent Emereli-Normalwert. Sie schlenderten auf dem äußeren Boulevard, einer breiten Straße, die sich wie das Gewinde einer riesigen Schraube am inneren Stadtrand spiralenförmig emporwand, so daß ein ehrgeiziger Tourist die Stadt vom Boden bis zur Spitze zu Fuß erklimmen konnte. Restaurants, Museen und Boutiquen säumten den Boulevard zu beiden Seiten. Dazwischen befanden sich verlassene Verkehrswege für Ballonreifenwagen und schnellere Fahrzeuge. Ein Dutzend Gleitbänder, sechs nach oben, sechs nach unten, bildeten den Mittelstreifen der sanft gewundenen Pracht-straße. Als ihre Beine müde wurden, stiegen sie auf ein langsames Transportband um, dann auf ein schnelleres und abermals auf ein schnelleres. Während die Szenerie vorbeiglitt, wies die Stimme auf besonders interessante Dinge hin, von denen sich keines als besonders interessant erwies.