Dirk ging zum Wandschirm vor dem Bett. Die Zimmerbeleuchtung funktionierte nicht, die einzige Lichtquelle war das schwache blaue Rechteck, das durch den Türrahmen fiel. Dort stand Gwen, eine triste, dunkle Silhouette.
Dirk konnte nur hoffen, etwas anderes blieb ihm nicht.
Er aktivierte den Wandschirm. Danach atmete er freier.
Er wandte sich Gwen zu. »Was willst du tun?« fragte sie.
»Sag mir eure Rufnummer in Larteyn.«
Sie verstand. Langsam nickte sie und nannte ihm die Ziffern, die er eine nach der anderen einspeiste. Das flackernde Rufsignal beleuchtete den Raum. Dann verschwand es, und die Lichtmuster formten sich zu den kantigen Gesichtszügen Jaan Vikarys.
Niemand sprach. Gwen trat aus dem Hintergrund hervor und stellte sich neben Dirk, eine Hand auf seiner Schulter. Schweigend musterte Vikary das Paar. Einen Augenblick lang hatte Dirk Angst, er würde einfach abschalten und sie ihrem Schicksal überlassen.
Stattdessen sprach er Dirk an. »Sie waren ein Festhaltbruder. Ich habe Ihnen vertraut.« Dann sah er auf Gwen. »Und dich habe ich geliebt.« »Jaan …« sagte sie schnell, dabei weich und mit so leisem Flüsterton, daß Vikary sie kaum gehört haben konnte. Dann hielt sie inne, wandte sich um und ging rasch aus dem Zimmer.
Noch immer hielt Vikary die Verbindung aufrecht.
»Wie ich sehe, sind Sie in Challenge. Warum haben Sie mich angerufen, t’Larien? Sie wissen doch, was wir jetzt tun müssen, mein teyn und ich?« »Ich weiß es«, sagte Dirk. »Und ich riskiere es. Ich muß es Ihnen einfach mitteilen. Die Braiths sind uns irgendwie gefolgt, wie, das weiß ich auch nicht. Wir hätten niemals geglaubt, daß sie uns aufspüren würden. Aber sie sind hier. Bretan Braith Lantry hat den Stadtcomputer abgeschaltet und scheint den größten Teil der restlichen Einrichtungen zu kontrollieren. Die anderen sind mit Jagdmeuten hier. Sie sind in den Gängen.« »Ich verstehe«, sagte Vikary. Eine seltsame, undeutbare Gefühlsregung zeigte sich auf seinem Gesicht. »Die Einwohner?« Dirk nickte. »Werden Sie kommen?«
Vikary lächelte schwach, beinahe ironisch. »Sie bitten mich um Hilfe, Dirk t’Larien?« Dann schüttelte er den Kopf. »Nein, ich sollte mich nicht über Sie lustig machen. Sie bitten nicht für sich selbst. Sie bitten für die anderen, die Emereli. Garse und ich werden kommen.
Wir bringen unsere Anstecknadeln mit und machen jeden zum korariel von Eisenjade, den wir vor den Jägern finden können. Dennoch wird es seine Zeit dauern, vielleicht zu lange. Viele werden sterben. Ein Wesen, Mutter genannt, starb gestern in einer anderen Stadt, im sogenannten Sternenlosen Teich. Die Puddingkinder … kennen Sie die Schwarzweiner Puddingkinder?«
»Ja, ich habe von ihnen gehört.«
»Sie brachen aus ihrer Mutter hervor, um sich eine andere zu suchen … und konnten keine finden. Während sie Jahrzehnte in ihrem riesigen Wirtskörper lebten, fingen andere von ihrer Welt das Wesen und brachten es von der Welt des Schwarzweinozeans nach Worlorn.
Dort ließen sie es im Stich. Zwischen den Puddingkindern und den anderen Schwarzweinern, die nicht ihrem Kult angehören, bestehen nicht die besten Beziehungen. Einhundert von ihnen taumelten herum, überrannten ihre Stadt, füllten sie über Nacht mit Leben und wußten nicht, wo sie sich befanden und warum man sie hergebracht hatte. Die meisten waren alt, sehr alt. Aus Furcht begannen sie ihre Totenstadt zu wecken -und so wurde Roseph Hoch-Braith auf sie aufmerksam. Ich tat, was ich konnte, und ich beschützte manche. Da dies aber Zeit in Anspruch nahm, wurden viele von den Braiths gefunden. In Challenge wird es ähnlich sein. Diejenigen, die auf die Korridore hinauslaufen und davonrennen, werden gejagt und zur Strecke gebracht, bevor mein teyn und ich helfen können. Verstehen Sie?« Dirk nickte.
»Es genügt nicht, mich anzurufen«, sagte Vikaty. »Sie müssen selbst eingreifen. Bretan Braith Lantry will Sie, Sie und keinen anderen. Er wird Ihnen sogar ein Duell zugestehen. Die anderen wollen Sie nur als Spottmenschen jagen, aber auch von ihnen werden Sie bedeutend höher als anderes Wild eingestuft. Gehen Sie hinaus, verlassen Sie Ihr Versteck, t’Larien. Für die sich versteckenden Emereli wird dieser Zeitgewinn sehr wichtig sein.«
»Ich verstehe«, sagte Dirk. »Sie wollen, daß Gwen und ich …« Vikary zog sich sichtlich zurück. »Nein, nicht Gwen.«
»Dann ich allein. Sie wollen, daß ich die Aufmerksamkeit auf mich ziehe? Ohne Waffe?«
»Sie haben eine Waffe«, entgegnete Vikary. »Sie haben sie selbst gestohlen und dadurch Eisenjade beleidigt. Ob Sie diese Waffe anwenden wollen oder nicht, liegt einzig bei Ihnen. Ich verlasse mich nicht darauf, daß Sie die richtige Wahl treffen. Ich habe mich schon einmal auf Sie verlassen. Ich sage es Ihnen nur. Noch etwas anderes, t’Larien. Was Sie auch tun oder unterlassen werden, es ändert sich nichts zwischen uns. Dieser Anruf ändert nichts. Sie wissen, was wir tun müssen.«
»Das haben Sie schon einmal gesagt«, sagte Dirk. »Ich sage es ein zweites Mal. Ich will, daß Sie sich daran erinnern.« Vikary machte ein finsteres Gesicht. »Und jetzt werde ich gehen. Der Flug nach Challenge ist lang, lang und kalt.« Bevor Dirk eine Antwort finden konnte, wurde der Schirm dunkel. Draußen, neben der Tür, lehnte Gwen an der teppichüberzogenen Wand und wartete. Ihr Gesicht hatte sie in den Händen vergraben. Als Dirk heraustrat, richtete sie sich auf. »Kommen sie?« fragte sie. »Ja.«
»Es tut mir leid, daß ich hinausgerannt bin. Ich konnte ihm nicht gegenübertreten.« »Das macht nichts.«
»Doch.«
»Nein«, sagte er scharf. Sein Magen schmerzte.
Entfernte Schreie hallten in seinen Gedanken wider. »Es macht nichts. Du hast vorher zum Ausdruck gebracht… wie du fühlst.«
»So?« Sie lachte. »Wenn du weißt, wie ich mich fühle, weiß du mehr als ich, Dirk.«
»Gwen, ich habe … Nein, hör mal, es spielt keine Rolle.
Du hattest recht. Wir müssen … Jaan sagte, wir hätten eine Waffe.« Sie runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Denkt er, ich hätte mein Bolzengewehr mitgenommen? Oder was?«
»Nein, ich glaube nicht. Er sagte nur, wir seien im Besitz einer Waffe, die wir selbst entwendet hätten, wodurch Eisenjade eine Beleidigung zugefügt worden wäre.«
Sie schloß die Augen. »Was?« sagte sie. »Natürlich!«
Ihre Augen öffneten sich wieder. »Der Gleiter! Er ist mit Laserkanonen ausgerüstet. Das muß es sein, was er meinte! Aber sie sind nicht feuerbereit, wahrscheinlich nicht einmal angeschlossen. Die meiste Zeit habe ich diesen Gleiter benutzt, und Garse …«
»Schon gut. Aber glaubst du, die Laser könnten in Ordnung gebracht werden?«
»Vielleicht. Ich weiß es nicht. Aber was sollte Jaan sonst gemeint haben?«
»Die Braiths mögen den Gleiter natürlich schon entdeckt haben«, sagte Dirk leidenschaftslos, »aber wir müssen diese Chance wahrnehmen. Verstecken können wir uns sowieso nicht — sie werden uns finden. Falls mein Anruf in Larteyn irgendwo dort unten registriert wurde, kann Bretan schon auf dem Weg hierher sein. Nein, wir gehen zum Gleiter zurück. Das werden sie nicht erwarten, wenn sie uns auf dem Boulevard abwärts gefolgt sind.«
»Der Gleiter befindet sich zweiundfünfzig Stockwerke über uns«, stellte Gwen fest. »Wie sollen wir das schaffen? Wenn Bretan tatsächlich die Energieversorgung kontrolliert, wie wir befürchten, dann hat er mit Sicherheit die Aufzüge lahmgelegt. Und er hat die Gleitbänder angehalten.«
»Er wußte, daß wir die Gleitbänder benutzten«, bemerkte Dirk. »Oder zumindest, daß wir uns auf dem Boulevard befanden. Unsere Verfolger teilten es ihm mit.
Sie stehen miteinander in Kontakt, Gwen. Es gibt keine andere Erklärung, die Bänder stoppten im passenden Augenblick. Aber das macht es leicht.« »Leicht? Was?«