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»Ihre Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen«, sagte er, »sie auf unsere Fährte zu locken, um die gottverdammten Emereli zu retten. Das will Jaan doch von uns. Ist es nicht das, was du auch willst?« Seine Stimme klang schrill.

Gwen erbleichte ein wenig. »Nun …«, sagte sie.

»Sicher.« »Dann hast du gewonnen. Wir werden es tun.«

Nachdenklich fragte sie: »Nehmen wir die Aufzüge?

Falls sie noch in Betrieb sind?«

»Denen können wir nicht trauen«, widersprach Dirk, »selbst dann nicht, wenn sie noch eingeschaltet sind.

Stell dir mal vor, Bretan setzt sie außer Betrieb, wenn wir unterwegs sind!«

»Von Treppen habe ich nie etwas gehört«, sagte sie.

»Und ohne die Stimme finden wir sie auch nicht, selbst wenn es sie geben sollte. Wir können den Boulevard hinaufgehen, aber …«

»Mindestens zwei Jagdgruppen der Braiths machen den Boulevard unsicher. Wahrscheinlich noch mehr. Nein.«

»Was dann?« »Was bleibt noch übrig?« sagte er stirnrunzelnd. »Der Zentralschacht.«

Dirk lehnte sich über das schmiedeeiserne Geländer. Er sah hinauf und dann nach unten, und ihm wurde schwindelig. Der Zentralschacht schien sich in beiden Richtungen schier endlos zu erstrecken. Vom Fuß bis zur Spitze waren es nur zwei Kilometer, wie er wohl wußte, aber alles daran vermittelte das Gefühl unendlicher Entfernung. Die aufsteigende Warmluft, die federleichten Teilchen Auftrieb verlieh, füllte den dröhnenden Schacht mit grauweißem Nebel, und die Balkone, die Stockwerk über Stockwerk den Rand bildeten, sahen alle gleich aus und erweckten ein Gefühl unendlicher Wiederholung.

Gwen hatte ein kleines, silbern schimmerndes Metallinstrument aus dem Sensorenkoffer genommen.

Neben Dirk trat sie an das Geländer und warf es mit leichtem Schwung in den Schacht. Beide sahen zu, wie es hinaussegelte, sich dabei überschlug und reflektiertes Licht aufblitzen ließ. Es schwebte ungefähr bis zur Mitte des Abgrunds, bevor es langsam, sanft, halb getragen von der aufsteigenden Luft, zu fallen begann, ein tanzender Metallsplitter im künstlichen Sonnenlicht. Eine Ewigkeit lang sahen sie ihm nach, bis es in der grauen Tiefe unter ihnen verschwunden war. »Na ja«, meinte Gwen, nachdem sie es aus den Augen verloren hatten, »wenigstens funktioniert die Antigravitation noch.« »Ja.

Bretan kennt die Stadt nicht. Jedenfalls nicht gut genug.«

Dirk sah wieder nach oben. »Ich denke, wir sollten es wagen. Wer geht als erster?«

»Bitte nach Ihnen«, meinte Gwen und lächelte.

Dirk öffnete das Balkontor und trat ganz bis zur Wand zurück. Ungeduldig wischte er sich eine Locke aus den Augen, zuckte mit den Schultern, rannte los und stieß sich vom Rand so kräftig wie möglich ab. Der Sprung trug ihn hinaus und hoch, hoch. Einen verrückten Moment lang glaubte er zu fallen, und sein Magen krampfte sich zusammen. Aber dann riß er die Augen auf, sah und fühlte. Nun war es nicht mehr wie Fallen, es war Fliegen, Schweben. Ausgelassen begann er zu lachen, streckte die Arme über seinem Kopf aus und brachte sie mit kräftigem Zug an seinen Körper heran.

Schneller werdend, schwamm er höher. Leere Balkonreihen glitten vorbei: eine Etage, zwei, fünf.

Früher oder später würde er zu sinken beginnen und eine langsam absteigende Kurve in die grau verhüllte Ferne hinein beschreiben. Aber er würde kaum Zeit zum Fallen haben. Die andere Seite des Zentralschachts war nur dreißig Meter entfernt, ein einfacher Sprung durch die papierdünnen Ketten der hier herrschenden Minischwerkraft.

Schließlich kam die konkave Wand näher, und er prallte, sich überschlagend und grotesk aufwärtstaumelnd, vom schwarzen Eisengeländer ab, bevor er eine Strebe des Balkons darüber zu fassen bekam. Er hatte den Zentralschacht durchquert und elf Stockwerke Höhe gewonnen. Lächelnd und merkwürdig angeregt, setzte er sich und sammelte Kraft für einen zweiten Sprung, während er beobachtete, wie Gwen es ihm nachtat. Sie flog wie ein seltsamer, aber anmutiger Vogel. Ihr Haar schimmerte wie schwarze Seide hinter ihr, als sie dahinschwebte und ihn um zwei Stockwerke schlug. Als er die 520. Etage erreichte, hatte Dirk überall am Körper Prellungen, weil er so oft gegen die eisernen Geländer gestoßen war. Dennoch fühlte er sich recht gut.

Am Ende seines sechsten schwindelerregenden Sprunges über die gähnende Tiefe hinweg hätte er sich beinahe geweigert, den Zielbalkon zu betreten und zur normalen Schwerkraft zurückzukehren. Gwen wartete schon auf ihn. Den Sensorenkoffer und die Geländeausrüstung hatte sie auf den Rücken geschnallt. Sie gab ihm die Hand und half ihm über das Geländer. Dann gingen sie hinaus auf den breiten Korridor, der den Zentralschacht umrundete.

An Kreuzungen, wo lange, gerade Passagen wie die Spei-chen eines großen Rades vom Stadtkern fortführten, schienen Leuchtkugeln im nun schon vertrauten trüben Blau. Willkürlich wählten sie eine der Abzweigungen und begannen schnell auf den äußeren Rand der Stadt zuzugehen. Der Weg war länger, als Dirk es für möglich gehalten hätte, und führte an zahlreichen anderen Schnittpunkten vorbei. Bei vierzig hörte er zu zählen auf.

Alle glichen wie ein Ei dem anderen. Es ging vorbei an schwarzen Türen, die sich nur durch ihre Nummerierung unterschieden. Weder er noch Gwen sprachen. Das gute Gefühl, das Dirk während der Ekstasen des schwerelosen Fluges überkommen hatte, verließ ihn auf dem Weg durch die trübe Finsternis so schnell, wie es gekommen war. Schwache Anzeichen von Furcht regten sich in ihm.

Seine Ohren gaukelten ihm Phantomgeräusche vor, leises Geheul und gedämpfte Schritte von Verfolgern, seine Augen ließen aus den weiter entfernten Kugellampen fremdartige, schreckliche Gestalten wachsen und glaubten in jeder Kobaltdecke bedrohliche Schatten auszumachen. Aber sie trafen auf nichts. Es waren nur seine Sinne, die ihm diese Streiche spielten.

Doch die Braiths waren hiergewesen. Nahe am äußeren Rand von Challenge, dort, wo der Diagonalgang auf den Boulevard stieß, fanden sie einen der ballonbereiften Wagen, in denen die Stimme ihre Gäste spazieren zu fahren pflegte. Er war leer und lag umgekippt zur einen Hälfte auf dem blauen Teppichboden, zur anderen Hälfte auf dem glatten, kalten Kunststoff, mit dem der Boulevard säuberlich überzogen war. Als sie ihn erreichten, hielten sie an. Gwen sah Dirk ohne Kommentar in die Augen. Wenn er sich recht erinnerte, hatten diese Wagen keine Handsteuerung, sondern wurden ferngesteuert. Und hier lag einer bewegungslos auf der Seite. Er bemerkte noch etwas anderes. Neben dem einen Hinterrad befand sich eine nasse, übelriechende Stelle auf dem blauen Teppichboden …

»Komm schon«, flüsterte Gwen. In der Hoffnung, daß die Braiths, die sich vor kurzem hier aufgehalten hatten, außer Hörweite waren, überquerten sie den verlassenen Boulevard. Luftschleuse und Gleiter waren nun in unmittelbarer Nähe. Nur eine grausame Ironie des Schicksals konnte sie so kurz vor dem Ziele noch scheitern lassen. Aber Dirk kam es vor, als hallten ihre Schritte schrecklich laut auf der nackten Oberfläche des Boulevards. Mit Sicherheit hörte man sie überall in dem riesigen Gebäude. Selbst Bretan Braith im tiefsten Keller, Kilometer unter ihnen, würden die Schritte nicht verborgen bleiben. Als sie den Fußgängerüberweg erreichten, der die stillgelegten Gleitbänder überbrückte, begannen beide zu rennen. Dirk war sich nicht sicher, ob er plötzlich losgestürmt war. Eben gingen sie noch nebeneinander und versuchten, so schnell wie möglich voranzukommen, ohne dabei allzu laute Geräusche zu verursachen — und im nächsten Augenblick rannten sie beide los.

Hinter dem Boulevard — nackter Korridor, zwei Richtungswechsel, ein breites Tor, das ihren Öffnungsversuchen nicht nachgeben wollte. Schließlich warf sich Dirk mit seiner angeschlagenen Schulter dagegen. Das Tor und er ächzten protestierend, aber die Tür gab schließlich nach. Sie standen auf der Landeplattform des 520. Stocks. Die Nacht war kalt und dunkel. Sie konnten Worlorns unvermeidlichen Wind hören, wie er winselnd um den Emereliturm herumpfiff.