Ein Lächeln umspielte eine Sekunde lang Gwens Lippen. Dirk sah es und staunte. Er erinnerte sich an seine sanfte Jenny von Avalon. Dann sahen sie die Gestalten, kleine schwarze Silhouetten auf dem spärlich beleuchteten Boulevard, die rasch zu Menschen und Hunden anschwollen, als der Manta auf sie zujagte. Fünf der großen Hunde trabten frei den Boulevard hinab und folgten einem sechsten, größeren Tier, das mit zwei schweren, schwarzen Ketten im Zaum gehalten wurde.
Zwei Männer hielten die Enden der Ketten und stolperten hinter dem Rudel her, das von dem mächtigen Leittier unbarmherzig mitgezogen wurde.
Sie wuchsen. Wie schnell sie wuchsen! Die Hunde hörten den Luftgleiter zuerst. Das Leittier warf den Kopf herum, und eine Kette wurde dem Braith aus der Hand gerissen. Drei der freien Rudelhunde blieben stehen, und ein vierter kam knurrend in langen Sätzen den Boulevard hochgehetzt, dem Gleiter entgegen. Die Männer schienen einen Augenblick lang verwirrt zu sein. Der eine im wahrsten Sinne des Wortes. Er hatte sich in der Kette verheddert, als der Rudelführer die Richtung wechselte.
Der andere hatte nichts mehr in der Hand und griff zur Hüfte.
Gwen schaltete die Scheinwerfer ein. Im Halbdunkel blendeten die Mantaaugen. Der Gleiter knallte in die Gruppe hinein. Dirks Eindrücke überstürzten sich. Ein langgezogener Heulton verwandelte sich plötzlich in einen Schmerzensschrei, der Aufschlag ließ den Manta erbeben. Wilde, rote Augen glühten entsetzlich nahe, ein Rattengesicht und gelbe Zähne, naß vor Geifer, dann wieder ein Aufschlag, erneutes Erzittern, ein Zubeißen.
Weitere Aufschläge, Übelkeit verursachende klatschende Geräusche, die an Fleisch erinnerten. Ein Schrei, ein sehr menschlicher Schrei, dann wurde ein Mann von den Scheinwerfern erfaßt. Es dauerte scheinbar eine Stunde, bis sie ihn erreichten. Er war groß und kräftig gebaut, in weite Hosen und in eine Jacke aus Chamäleonstoff gekleidet, die beim Näherkommen ihre Farbe zu wechseln schien. Dirk kannte ihn nicht. Der Mann hielt die Unterarme schützend vor das Gesicht. In einer Hand hielt er einen nutzlosen Duell-Laser, und Dirk konnte blankes Metall aus seinem Ärmel ragen sehen. Weißes Haar fiel ihm auf die Schultern. Dann, plötzlich, nach einer Ewigkeit eingefrorener Bewegung, war er verschwunden. Der Manta erbebte. Dirk zitterte mit ihm.
Vor ihnen war graue Leere, die nicht enden wollende Kurve des Boulevards.
Dirk drehte sich herum. Hinter ihnen kam ein Hund hergerannt, der geräuschvoll zwei Ketten hinter sich herzog. Aber während er ihn anstarrte, wurde er kleiner und kleiner. Dunkle Formen lagen auf der kalten Kunststoffstraße. Er kam nicht mehr dazu, sie zu zählen, so schnell waren sie verschwunden.
Ein Lichtstrahl flammte kurz über ihnen auf, verfehlte sie aber um mehrere Meter.
Gwen und er waren wieder allein, und es gab kein Geräusch außer dem Rauschen und Flüstern ihres Gleiters. Sie sah sehr gefaßt aus. Ihre Hände zitterten nicht. Seine schon, »Ich glaube, wir haben ihn getötet«, sagte er.
»Ja«, sagte sie. »Das haben wir. Und einige der Hunde auch.« Sie war eine Weile still. Dann fuhr sie fort:
»Wenn ich mich recht erinnere, war sein Name Teraan Braith soundso.« Beide schwiegen. Gwen schaltete die Scheinwerfer wieder ab.
»Was machst du?« sagte Dirk.
»Vor uns sind noch mehr«, sagte sie. »Denk an den Schrei, den wir gehört haben.«
»Ja.« Er dachte eine Zeitlang nach. »Kann der Gleiter noch einen Zusammenprall aushaken?«
Beinahe hätte sie gelacht. »Ach«, sagte sie. »Im kavalarischen Duellkodex gibt es auch Luftauseinandersetzungen. Gleiter werden oft als Waffen gewählt. Sie sind robust gebaut. Dieser hier ist so konstruiert, daß er Laserfeuer längerer Zeit widersteht.
Die Panzerung … Bedarf es weiterer Erklärungen?«
»Nein.« Er machte eine Pause. »Gwen.« »Ja?«
»Töte keinen mehr von ihnen.«
Sie warf ihm einen raschen Blick zu. »Sie jagen die Emereli und jeden, der das Pech hat, sich innerhalb von Challenge zu befinden. Mit Vorliebe würden sie uns jagen.«
»Wir könnten sie ablenken und so für die anderen Zeit gewinnen«, sagte er. »Jaan wird bald hier sein. Wir brauchen niemanden zu töten.« Sie seufzte. Ihre Hände bewegten sich, und sie bremste den Gleiter ab. »Dirk«, begann sie. Dann sah sie etwas und drosselte die Geschwindigkeit so weit, daß sie nur noch ganz langsam voranglitten. »Sieh mal, dort.« Sie deutete auf etwas.
In dem schwachen Licht war es schwierig, die Dinge genau auszumachen, bevor sie nicht ganz heran waren.
Und dann … Eine Leiche, oder was davon übrig war.
Mitten auf dem Boulevard. Blutig. Überall Fleischfetzen und angetrocknetes Blut auf dem Kunststoff. »Es muß sich um das Opfer handeln, dessen Schrei wir vor einiger Zeit hörten«, erklärte Gwen im Plauderton.
»Spottmenschen werden gejagt, aber nicht gefressen, mußt du wissen. Man sagt zwar, diese Kreaturen seien nicht menschlich, sondern nur eine Art halbintelligenter Tiere, und man glaubt auch daran. Dennoch überwinden die Jäger den Gestank des Kannibalismus nicht, selbst sie nicht. Sie wagen es nicht. Selbst in den frühesten Tagen Hoch Kavalaans, während der dunklen Jahrhunderte, aßen die Festhaltjäger niemals das Fleisch der Spottmenschen, die sie erlegt hatten. Das überließen sie den Göttern, den Mistmotten und Sandkäfern. Natürlich, nachdem sie aus Dankbarkeit ihren Hunden einige Stücke überlassen hatten. Die Jäger nehmen jedoch Trophäen.
Den Kopf. Siehst du den Rumpf dort? Zeig mir den Kopf.« Dirk fühlte ein Würgen im Hals.
»Die Haut auch«, fuhr Gwen fort. »Sie tragen Messer zum Abhäuten. Oder besser gesagt, sie trugen diese Messer. Vergiß nicht, die Spottmenschenjagd ist auf Hoch Kavalaan seit Generationen verfemt. Selbst der Hochleibeigenenrat von Braith hat sich dagegen ausgesprochen. Die verbliebenen Jäger töten unrechtmäßig. Sie müssen ihre Trophäen verstecken und prahlen damit höchstens untereinander. Hier jedoch … Nun, Jaan rechnet damit, daß die Braiths so lange auf Worlorn bleiben, wie es ihnen nur eben möglich ist. Sie reden viel davon, das alte Braith hier wieder aufleben zu lassen und ihre betheyns aus den Festhalten der Heimatwelt zu holen. Sie träumen von der Gründung einer neuen Koalition auf Worlorn, die den alten Traditionen verschrieben sein soll und alle vergessenen und absterbenden Scheußlichkeiten wieder ans Tageslicht zerrt. Von Dauer wäre das nicht: vielleicht ein Jahr oder zwei oder zehn, je nachdem, wie lange der toberianische Stratoschild die Wärme hält. Lorimaar Hoch-Larteyn und Komparsen — und keiner kann sie daran hindern.«
»Wahnsinn!«
»Vielleicht. Das hält sie aber nicht zurück. Falls Jaantony und Garse morgen abreisen würden, könnte sie nichts mehr daran hindern, ihr Vorhaben wahrzumachen.
Die Anwesenheit Eisenjades schreckt sie ab. Sollten die anderen reaktionären Braiths in Massen hier auftauchen, so würde das fortschrittliche Eisenjade ebenfalls Männer senden. Das ist ihre Befürchtung. Dann gäbe es nichts mehr zu jagen, und sie und ihre Kinder stünden vor einem kurzen und harten Leben auf einer sterbenden Welt — ohne die Genüsse, auf die sie versessen sind: die Freuden der Hochjagd.« Sie zuckte die Achseln. »Aber es gibt schon jetzt Trophäengalerien in Larteyn. Allein Lorimaar prahlt mit fünf Köpfen, und man sagt, daß er zwei Jacken aus ›Spottmenschenleder‹ besitzt. Er trägt sie nicht. Jaan würde ihn töten.«
Ruckartig ließ sie den Gleiter vorschnellen. »Also — willst du nun immer noch, daß ich ausweiche, wenn wir das nächste Mal auf Jäger stoßen?« fragte sie. »Jetzt weißt du, woran du mit ihnen bist!« Er antwortete nicht.
Wenig später begann es vor ihnen erneut zu rumoren.
Markerschütterndes Jaulen und Geschrei hallten durch den sonst verlassenen Spiralboulevard. Gwen mußte einem weiteren Ballonradwagen ausweichen, der mit zerfetzten Reifen im Wege lag und ein Bild der Verwüstung bot. Kurz darauf versperrte eine unförmige Masse schwarzen Metalls ihre Abfahrt. Es handelte sich um einen mächtigen Roboter, dessen vier ausgestreckte Arme in grotesken Stellungen über seinem Kopf erstarrt waren. Ein dunkler, mit gläsernen Augen besetzter Zylinder bildete den oberen Teil des Körpers. Unten bestand er aus einem mit Rädern versehenen fahrbaren Untersatz von der Größe eines Gleiters. »Ein Wärter«, bemerkte Gwen, als sie an der regungslosen Maschinenleiche vorbeischwebten. Dirk sah, daß man an jedem Arm die Greifzangen abgeschlagen hatte und der Rumpf mit ausgeschmolzenen Laserlöchern übersät war.