»Hat er gegen sie gekämpft?« fragte er.
»Wahrscheinlich«, antwortete sie. »Das bedeutet wohl, daß die Stimme noch nicht ganz außer Gefecht gesetzt wurde. Sie kontrolliert noch einige Funktionen.
Vielleicht haben wir deshalb nichts mehr von Bretan Braith gehört. Es könnte sein, daß sie dort unten Schwierigkeiten haben. Es ist ganz logisch, daß die Stimme ihre Wärter auf den Plan bringt, um die Lebensfunktionen der Stadt zu schützen.« Sie schüttelte den Kopf. »Es spielt aber keine Rolle. Die Emereli halten es nicht mit der Gewalt. Die Einsatzmöglichkeiten der Wärter sind begrenzt. Sie feuern Betäubungsbolzen ab und können Tränengas durch ein Gitter an ihrer Fahr-plattform absprühen. Die Braiths werden gewinnen.
Jederzeit.« Hinter ihnen war der Roboter schon verschwunden, und vor ihnen lag der Boulevard wieder unberührt und leer. Aber die Geräusche wurden immer lauter.
Diesmal sagte Dirk nichts, als Gwen direkt auf die Jagdgesellschaft zuhielt und die Scheinwerfer einschaltete. Schreie und Stöße wechselten einander in kurzer Folge ab. Sie erwischte beide Braithjäger, obwohl sie wenig später daran zweifelte, daß der zweite Braith tot war. Der Gleiter hatte ihn mit der Schwinge erfaßt und mit großer Wucht auf seinen eigenen Hund geschleudert.
Und Dirk verschlug es die Sprache. Denn als der Mann, sich um die eigene Achse drehend, von dem rechten Flügel ihres Gleiters herabfiel, wurde ihm etwas aus der Hand gerissen, das er die ganze Zeit getragen hatte. Es flog in hohem Bogen durch die Luft und klatschte gegen die Fensterscheibe einer Boutique, wo es eine blutige Schmierspur hinterließ, bevor es zu Boden fiel. Er hatte es an den Haaren gehalten.
Die Korkenzieherstraße wand sich in weiten Kurven um den inneren Mantel von Challenge und verlor dabei langsam, aber stetig an Höhe. Dirk hätte sich nicht träumen lassen, daß es so lange dauern würde, von Stockwerk 388 — wo sie die zweite Jagdgesellschaft der Braith überrascht hatten — bis zur ersten Etage hinunterzukommen. Eine lange Fahrt in grauer Stille.
Sie trafen niemanden mehr an, weder Kavalaren noch Emereli. Auf Stockwerk 120 blockierte ein einsamer Wärter ihren Weg, richtete alle seine Sehzellen auf sie und befahl ihnen zu stoppen. Es war die Stimme, und sie klang noch immer beherrscht und freundlich. Aber Gwen verlangsamte die Fahrt nicht. Als sie ihn fast erreicht hatten, rollte der Wärter aus dem Weg und verschoß weder Bolzen noch Gas. Seine Befehle hallten hinter ihnen her den Boulevard hinunter.
Auf Etage 57 flatterten die trüben Lichter über ihnen und erloschen dann. Einen Augenblick lang flogen sie in völliger Dunkelheit. Dann schaltete Gwen die Scheinwerfer an und verringerte die Geschwindigkeit ein wenig. Keiner von beiden sprach, aber Dirk dachte an Bretan Braith und fragte sich, ob die Stromversorgung von allein ausgefallen war. Er entschied sich dafür, daß der Kavalare für die Dunkelheit verantwortlich war.
Einer der überlebenden Jäger hatte endlich seinen Festhaltbruder im Tiefgeschoß gewarnt.
Im Erdgeschoß mündete der Boulevard in eine prächtige Allee ein, von der in der Dunkelheit allerdings wenig zu erkennen war. Nur dort, wo die Kegel der Scheinwerfer hinleuchteten, sprangen Umrisse und Formen aus dem tiefschwarzen Meer, das sie umgab. Die von der als Kreisel angelegten Straße umschlossene Innenfläche wurde zum größten Teil von einem einzigen Baum eingenommen. Dirk erkannte einen massigen, verwachsenen Stamm, der schon mehr an einen massiven Holzturm erinnerte. Über ihnen war das Rascheln von Blättern zu hören. Gwen folge der Straße halb um den Baum herum. Dort, auf der anderen Seite, führte eine breite Einfahrt in die Nacht hinaus. Dirk spürte den Wind im Gesicht und erkannte, warum die Blätter rauschten.
Als sie weiter dem Kreisel folgten und an der Einfahrt vorüberglitten, sah er hinaus. Hinter dem Torbogen führte das weiße Band einer Straße in das Freigelände hinein.
Über der Straße schwebte ein Gleiter. Er näherte sich der Stadt. Dirk sah ihn nur einen kurzen Moment. Das dürftige Sternenlicht der Außenwelten genügte, um einen metallischen Glanz und die Umrisse eines mißgestalteten Kavalarentiers erkennen zu lassen. Er konnte den Gleiter nicht identifizieren. Die Eisenjades waren es nicht, da war er sich ganz sicher.
9
»Wir haben es geschafft«, sagte Gwen trocken, nachdem sie die Einfahrt passiert hatten. »Sie sind hinter uns her.«
»Ob sie uns gesehen haben?«
»Anzunehmen. Wir fuhren in Festbeleuchtung an dem offenen Tor vorbei. Das müssen sie einfach gesehen haben.«
Sie schwebten immer noch durch undurchdringliche Dunkelheit, und über ihren Köpfen rauschten die Blätter.
»Sollen wir unser Heil in der Flucht suchen?« fragte Dirk.
»Ihr Fahrzeug hat funktionierende Laser, unseres nicht.
Als Fluchtweg bleibt uns nur der äußere Boulevard. Der Braithgleiter wird uns hinaufjagen, und über uns warten irgendwo die Jäger. Wir haben nur zwei, höchstens drei getötet. Es sind viel mehr. Wir sitzen in der Falle.« Dirk dachte angestrengt nach. »Wir können den Kreisel noch einmal durchfahren und durch die Ausfahrt schlüpfen, nachdem sie hereingefahren sind.«
»Ja, dieser Versuch liegt wohl nahe. Zu nahe, fürchte ich. Draußen wird ein weiterer Gleiter auf uns warten, da bin ich sicher. Ich habe eine bessere Idee.« Während sie sprach, bremste sie den Manta ab und brachte ihn zum Stehen. Direkt vor ihnen gabelte sich die Straße im leuchtenden Scheinwerferlicht. Links setzte sich der Kreisel fort, rechts begann der äußere Boulevard seinen zwei Kilometer langen Aufstieg. Gwen schaltete das Licht aus, und Dunkelheit hüllte sie ein. Als Dirk etwas sagen wollte, brachte sie ihn mit einem scharfen »Psssscht!« zum Schweigen.
Die Welt war so tiefschwarz, als wäre er blind geworden. Gwen, der Gleiter, Challenge — alles war verschwunden. Er hörte, wie die Blätter sich gegenseitig berührten und glaubte auch den anderen Gleiter, die Braiths, zu hören. Aber das mußte ein Hirngespinst sein, denn mit Sicherheit hätte er zuerst die Lichter der Maschine gesehen. Plötzlich fühlte er ein leichtes Schaukeln, als säße er in einem kleinen Boot. Etwas Hartes berührte seinen Arm. Dirk fuhr zusammen. Dann fuhr etwas kratzend durch sein Gesicht. Blätter.
Sie stiegen auf, direkt in das tiefhängende, dichte Laubwerk des riesigen Emerelibaums hinein.
Ein Zweig, zur Seite gedrückt und dann zurückfedernd, schlug ihm heftig ins Gesicht. Seine Wange blutete. Um ihn herum — überall Blätter. Es knackte, und schließlich gab es einen sanften Stoß. Die Schwingen des Gleiters waren gegen einen dicken Ast gestoßen. Höher konnten sie nicht hinaufsteigen. Blind, eingehüllt in Dunkelheit und unsichtbares Blätterwerk, schwebten sie auf der Stelle. Wenige Augenblicke später schoben sich unter ihnen Lichtkegel vorbei, bogen nach rechts ab, den Boulevard hinauf. Der Gleiter war kaum verschwunden, da kam ein anderer von links in Sicht, bog scharf ab und folgte dem ersten. Dirk war sehr dankbar, daß Gwen seinen Vorschlag verworfen hatte. Endlos lange schwebten sie zwischen den Blättern, aber es erschienen keine anderen Gleiter. Schließlich ließ Gwen die Maschine zur Straße hinabsinken. »Wir haben sie nicht für immer abgehängt«, sagte sie. »Wenn ihre Falle sich schließt und wir nicht drin sind, werden sie zu grübeln anfangen.«