Auch sein Körper bewegte sich in diesem auf und ab schwellenden Rhythmus, wie er schließlich erkannte. Er lag auf einem Ding, das getragen oder gezogen wurde. Er bewegte die Hände, versuchte es jedenfalls. Es war nicht leicht. Der Schmerz schien alle normalen Wahrneh-mungen wegzuschwemmen. Sein Mund war voller Blut.
In seinen brennenden Ohren klingelte und summte es.
Ja, er wurde getragen. Da waren Stimmen, er konnte Stimmen sprechen und brummen hören. Was gesagt wurde, verstand er nicht. Irgendwo vor ihm tanzte ein Licht, sonst gab es nur grauen Nebel. Ganz langsam ließ das Brummen nach. Schließlich drangen die einzelnen Wörter bis an sein Bewußtsein vor.
»… nicht gerade glücklich«, sagte jemand, den er nicht kannte. Jedenfalls glaubte er nicht, ihn zu kennen. Es war schwer zu sagen. Alles war so weit entfernt, und er schaukelte auf und ab. Der Schmerz kam und ging, kam und ging, kam und ging.
»Ja«, ließ eine andere Stimme verlauten. Sie klang tief, knapp und fest.
Wieder Brummen — mehrere Stimmen gleichzeitig.
Dirk bekam nichts von dem Inhalt mit.
Dann gebot ein Mann den anderen zu schweigen.
»Genug«, sagte er. Seine Stimme schien noch weiter entfernt als die ersten beiden, sie kam irgendwie von vorn, aus dem tanzenden Licht. Pyr? Pyr. »Ich fürchte Bretan Braith Lantry nicht, Roseph. Ihr vergeßt, wer ich bin. Als Bretan Braith noch an den Titten der eyn-kheti saugte, hatte ich in unzugänglichen Gegenden schon drei Köpfe erbeutet. Nach allen alten Rechten gehört der Spottmensch mir.«
»Gewiß«, erwiderte die erste der unbekannten Stimmen. »Falls Ihr ihn in den Tunneln zur Strecke gebracht hättet, würde keiner Euer Recht in Frage stellen.
Aber Ihr tatet es nicht.« »Ich wünsche eine reine Jagd der ältesten Art.« Jemand sagte etwas auf altkavalarisch.
Gelächter folgte. »Viele Male haben wir in unserer Jugend zusammen gejagt,« sagte die fremde Stimme.
»Hättet Ihr nur anders über Frauen gedacht, dann wären wir leicht teyn-\md-teyn geworden. Ich will Euch nicht ins Unrecht setzen. Nein. Aber Bretan Braith Lantry will diesen Mann so sehr …«
»Er ist kein Mann, er ist ein Spottmensch. Ihr habt ihn selbst dazu ernannt, Roseph. Was Bretan Braith will, ist mir egal.« »Ich habe ihn zum Spottmenschen erklärt, und das ist er auch. Für Euch und mich ist er nur einer unter vielen. Wir können die Puddingkinder jagen, die Emereli und andere. Ihr braucht ihn nicht, Pyr. Bretan Braith meint, daß der Mann, den er herausgefordert hat, kein Mann ist.«
»Das ist wahr, aber es ist noch nicht alles. T’Larien ist eine besondere Sorte Wild. Zwei unserer kethi wurden durch seine Hand getötet, und Koraat liegt mit gebrochenem Rückgrat im Sterben. Kein Spottmensch hat das jemals fertiggebracht. Ich werde ihn nehmen, wie es mir zusteht. Ich habe ihn gefunden, ich allein.«
»Ja«, sagte die zweite der neuen Stimmen, jene tiefe, abgehackte. »Das ist allerdings wahr, Pyr. Wie habt Ihr ihn entdeckt?« Pyr nutzte die Gelegenheit zum Prahlen.
»Ich ließ mich durch den Gleiter nicht in die Irre führen wie Ihr und Ihr, ja selbst Lorimaar. Sie waren schlau, dieser Spottmensch und die betheyn-Schlampe, die mit ihm flüchtete. Sie wollten den Wagen nicht wie einen Wegweiser in die Richtung zeigen lassen, in die sie verschwunden waren. Als Ihr mit Euren Hunden durch den Korridor ausschwärmtet, begannen mein teyn und ich damit, die Allee im Licht des Scheinwerfers nach Spuren abzusuchen. Ich wußte, daß die Hunde dabei nutzlos waren. Wir brauchten sie nicht. Ich bin ein besserer Spurensucher als jeder Hund oder Hundeführer. Ich habe Spottmenschen über die blanken Felsen der Lameraanberge verfolgt und durch geborstene Totenstädte gejagt. Selbst in den aufgegebenen Festhalten Taals, Bronzefausts und des Glühsteinberges habe ich sie aufgestöbert. Bei diesen beiden war es bedauerlich einfach. Wir untersuchten jeden Gang ein paar Meter weit und gingen dann zum nächsten weiter.
So fanden wir die Spur. Zuerst Schleifspuren auf dem Boden vor einer Rampe, die zu den Tunneln hinabführte, dann Fußabdrücke im Staub. Natürlich verschwand die Spur, als sie ihre Flugspielzeuge anlegten, aber zu dieser Zeit hatten wir nur noch zwei mögliche Richtungen zur Auswahl. Ich befürchtete, sie könnten den ganzen Weg bis Esvoch oder Kryne Lamiya fliegen, aber das war nicht der Fall. Wir verloren viel Zeit und mußten einen langen Weg zurücklegen, aber wir fingen sie.«
Dirk war nun fast munter, obwohl sein Bewußtsein noch immer von Schmerz umwabert wurde. Er bezweifelte, daß sein Körper auf die Befehle seines Gehirns reagieren würde. Wenigstens konnte er jetzt ohne Trübung sehen. Voraus ging Pyr Braith, den Scheinwerfer in der Hand. Er sprach mit einem kleineren, dunkelrot und weiß gekleideten Mann neben sich, bei dem es sich um Roseph, den Schiedsrichter der vertagten Duelle handeln mußte. Zwischen ihnen ging Gwen. Ihre Hände waren noch immer gebunden. Sie gab keinen Ton von sich. Dirk fragte sich, ob man sie geknebelt hatte, aber das war unmöglich zu beantworten, da er nur ihren Rücken sah.
Er lag auf einer Art von Tragbahre und wurde mit jedem Schritt durchgeschüttelt. Ein weiterer Braith in Dunkelrot und Weiß trug sie am anderen Ende, seine grobknochigen Fäuste umspannten die hölzernen Stangen. Pyrs theyn befand sich wahrscheinlich hinter ihm und hielt die Tragbahre an ihrem anderen Ende. Sie hatten den Tunnel, der sich endlos hinzuziehen schien, noch nicht verlassen. Dirk konnte nur schwer abschätzen, wie lange er bewußtlos gewesen war. Aber es mußte sich schon um eine beträchtliche Zeitspanne handeln, denn als er Pyr anzugreifen versucht hatte, war von Roseph und der Bahre nichts zu sehen gewesen. Sicher hatten seine Bezwinger ihre Festhaltbrüder zu Hilfe gerufen und im Tunnel auf sie gewartet. Keiner schien Notiz davon zu nehmen, daß Dirk die Augen geöffnet hatte. Oder vielleicht hatten sie es bemerkt und kümmerten sich einfach nicht darum. Sein Zustand ließ keine großen Taten zu, er konnte höchstens um Hilfe schreien. Pyr und Roseph setzten ihr Gespräch fort, in das sich die beiden anderen von Zeit zu Zeit einmischten. Dirk versuchte mitzuhören, aber die Schmerzen machten es ihm nicht leicht. Und was sie sagten, war für Gwen und ihn nur von sehr geringem Wert. Roseph schien Pyr hauptsächlich davor zu warnen, daß Bretan Braith sehr ungehalten werden könnte, falls Pyr darauf bestand, Dirk selbst zu töten. Pyr gab sich gleichgültig. Seinen Äußerungen war klar zu entnehmen, daß er Bretan, der zwei Generationen jünger war als der Rest von ihnen — und dem man seiner Meinung nach deshalb lieber argwöhnisch begegnen sollte — wenig Respekt entgegenbrachte. Während des ganzen Gesprächs erwähnten die Jäger die Eisenjades mit keinem Wort. Dirk schloß daraus, daß Jaan und Garse noch nicht in Challenge angekommen waren oder zumindest diese vier Kavalaren noch nichts davon wußten. Nach einer Weile gab er das anstrengende Mithören auf und ließ sich in einen Halbschlaf zurücksinken. Die Stimmen verschwammen wieder, waren aber noch lange Zeit hörbar. Schließlich verstummten sie jedoch. Ein Ende der Tragbahre knallte zu Boden, und er wurde unsanft geweckt. Starke Hände ergriffen ihn unter den Armen und hoben ihn hoch.
Sie hatten den Bahnhof unter Challenge erreicht, und Pyrs teyn zog ihn auf den Bahnsteig hinauf. Er machte keine Anstalten, ihm dabei zu helfen, sondern gab sich so leblos wie er konnte und ließ sich wie ein Stück totes Fleisch tragen.
Dann lag er wieder auf der Bahre, und sie trugen ihn die Rampe hinauf in die Stadt. Auf dem Bahnsteig hatten sie ihn nicht gerade mit Samthandschuhen angefaßt, die Welt um ihn begann wieder zu kreisen. Pastellblaue Wände zogen vorbei und erinnerten ihn daran, wie sie in der letzten Nacht in die andere Richtung geflüchtet waren. Aus irgendeinem Grunde war ihm zu dieser Zeit der Einfall, sich in den U-Bahn-Schächten zu verstecken, als sehr schlau vorgekommen.