»Auf Hoch Kavalaan vielleicht«, sagte Dirk. »Aber Sie haben auch auf Avalon gelebt, erinnern Sie sich?« »Ja«, sagte Vikary. »Leider.«
Die Musik schwoll an und dröhnte in den Ohren. Unter ihnen nahm die Sirenenstadt Form an: der äußere Turmring wie fleischlose Hände in erstarrtem Schmerz, bleiche Brücken über dunklen Kanälen, Teppiche schwachleuchtenden Mooses, hoch in den Wind ragende, pfeifende Spiralen. Eine weiße Stadt, eine tote Stadt, ein Wald scharfkantiger Knochen.
Dirk ließ den Gleiter kreisen, bis er jenes Gebäude fand, in das ihn Gwen geführt hatte. Dann setzte er zur Landung an. In der Landeschleuse standen die beiden Gleiterwracks noch immer ungestört unter ihrer dicken Staubschicht. Dirk erschienen sie wie Bruchstücke eines längst vergessenen Traumes. Einst erschienen sie ihm aus irgendeinem unerfindlichen Grunde wichtig. Aber zu jener Zeit waren er, Gwen und die Welt anders beschaffen, und jetzt fiel es schwer, sich daran zu erinnern, welche mögliche Bedeutung diese metallenen Geister wohl gehabt hatten.
»Sie sind schon einmal hier gewesen«, sagte Vikary.
Dirk sah ihn an und nickte. »Dann gehen Sie voran«, befahl der Kavalare. »Ich …«
Aber Vikary war schon aufgestanden. Er hatte Gwen vorsichtig vom Rücksitz gehoben und stand wartend da.
»Gehen Sie voran«, wiederholte er.
Dirk führte ihn aus der Landeschleuse in jene Gänge hinein, wo die grauweißen Wandbilder zur Symphonie von Dunkeldämmerung tanzten. Sie öffneten Tür um Tür, bis sie schließlich ein Zimmer fanden, das noch eine Einrichtung aufwies. Es war in Wirklichkeit eine Suite von vier miteinander verbundenen Räumen, alle sehr hoch, langweilig und weit davon entfernt, sauber zu sein.
Die Betten — zwei der Räume waren Schlafzimmer — bestanden aus kreisförmigen, tief in den Fußboden eingelassenen Löchern, ausgepolstert mit je einer einteiligen Matratze und mit saumlosem, öligem Leder überzogen, das leicht unangenehm nach saurer Milch roch. Aber es waren Betten, weich genug und ideal zum Ausruhen.
Vikary setzte Gwens schlaffen Körper vorsichtig ab. Als sie bequem lag — sie sah fast heiter aus —, ließ Jaan Dirk am Bettrand auf dem Fußboden neben ihr sitzen und ging hinaus, um den von ihnen gestohlenen Gleiter zu durchsuchen. Kurz darauf kam er mit einer Decke für Gwen und einer Feldflasche zurück.
»Trinken Sie nur einen kleinen Schluck«/ sagte er zu Dirk und reichte ihm die Flasche.
Dirk nahm den stoffüberzogenen Metallbehälter entgegen, schraubte den Verschluß ab und tat einen einzigen kurzen Schluck. Dann gab er den Behälter zurück. Die Flüssigkeit war lauwarm und schmeckte entfernt bitter, aber es fühlte sich sehr gut an, wie sie seinen trockenen Hals benetzte.
Vikary goß Wasser auf einen grauen Tuchstreifen und begann damit, Gwens Hinterkopf vom getrockneten Blut zu säubern. Er benetzte den Fetzen immer wieder und tupfte überaus sanft gegen die rotbraune Kruste, bis diese sich schließlich löste, und ihr feines schwarzes Haar wieder sauber als glänzender Fächer auf der Matratze im unregelmäßigen Licht der Wandspiele schimmerte. Als er damit fertig war, legte er einen Verband an und wandte sich Dirk zu. »Ich werde Wache halten«, sagte er.
»Gehen Sie in das andere Zimmer und legen Sie sich schlafen.«
»Wir sollten miteinander reden«, meinte Dirk zögernd.
»Später. Nicht jetzt. Gehen Sie und schlafen Sie sich aus.« Dagegen konnte Dirk kaum etwas einwenden, sein Körper gehorchte ihm fast nicht mehr, und die Kopfschmerzen hatten auch nicht nachgelassen. Er ging in das andere Zimmer und ließ sich ungraziös auf die säuerlich riechende Matratze fallen.
Aber trotz seiner Müdigkeit kam der Schlaf nicht sofort. Vielleicht waren es die Kopfschmerzen, vielleicht war es die unregelmäßige Lichtbewegung innerhalb der Wände, die ihn durch seine geschlossenen Lider hindurch verfolgte. In erster Linie war es jedoch die Musik. Sie blieb ständig bei ihm und schien eher noch lauter zu werden, wenn er die Augen schloß, so, als würde diese Handlung sie in seinem Schädel einschließen: ein dünnes Pfeifen, Flöten und Heulen und noch immer - ohne je enden zu wollen - der dumpfe Ton der einsamen Pauke.
Fieberträume beherrschten diese endlose Nacht — surreale Visionen, die ihm unter die Haut gingen und ihn in Angstschweiß badeten. Dreimal wurde Dirk aus seinem leichten Schlaf gerissen. Zitternd, mit feuchtkalter Haut, erhob er sich und stellte sich dem Lied von Lamiya-Bailis, ohne daß er wußte, was an der Musik ihn wachgerüttelt hatte. War er dann wach, glaubte er aus dem anderen Raum Stimmen zu hören. Einmal glaubte er sich sogar ziemlich sicher zu sein, Jaan Vikary an der gegenüberliegenden Wand sitzen und ihn beobachten zu sehen. Keiner von beiden sprach, und Dirk brauchte fast eine Stunde, um wieder einschlafen zu können. Nur, um wenig später erneut von einem leeren, widerhallenden Zimmer und den Lichtspielen geweckt zu werden. Einen Moment lang fragte er sich, ob sie ihn wohl hier auf Gedeih und Verderb zurückgelassen hatten, und je mehr er daran dachte, desto größer wurde seine Angst und desto schlimmer sein Zittern. Aber irgendwie war es ihm unmöglich, aufzustehen und in das angrenzende Schlafzimmer zu gehen, um selbst nachzusehen. Statt dessen schloß er die Augen und versuchte alle Erinnerungen zu verdrängen.
Und dann brach die Morgendämmerung an. Fetter Satan ragte halb über den Horizont, und fiebriges Licht, so rot und kalt wie Dirks Alpträume, flutete durch das hohe Mosaikfenster (in der Mitte wirkte es fast durchsichtig klar, aber ein breiter Rand war in verschlungenen Mustern aus schattigem Rotbraun und rauchigem Grau gehalten), um über sein Gesicht zu fallen. Er rollte sich aus der Helligkeit heraus und mühte sich ab, bis er eine Sitzhaltung erreicht hatte. Jaan Vikary erschien und bot ihm die Feldflasche an.
Dirk nahm mehrere tiefe Züge, verschluckte sich beinahe an dem kalten Wasser und ließ es über seine trockenen, gesprungenen Lippen laufen und über sein Kinn rieseln. Als Jaan sie ihm gegeben hatte, war die Feldflasche voll gewesen, halb geleert gab er sie zurück.
»Sie haben Wasser gefunden«, sagte er zu Jaan.
Der nickte beim Verschließen der Flasche. »Die Pumpstationen sind schon seit Jahren außer Betrieb, deshalb gibt es in den Türmen von Kryne Lamiya kein Wasser mehr. Aber durch die Kanäle fließt noch welches.
Gestern nacht, während Gwen und Sie schliefen, bin ich hinuntergegangen. «
Unsicher kam Dirk auf die Füße, und Jaan streckte die Hand aus, um ihm aus dem schwankenden Bett zu helfen.
»Ist Gwen … ?« »Sie hat früh in der Nacht das Bewußtsein wiedererlangt, t’Larien. Wir sprachen miteinander, und ich erzählte ihr, was ich getan habe. Ich glaube, ihr Gesundheitszustand wird sich rasch bessern.«
»Kann ich mit ihr sprechen?«
»Sie ruht sich jetzt aus, das heißt, sie schläft. Ich bin sicher, daß sie später mit Ihnen sprechen möchte, aber im Augenblick sollten wir sie nicht wecken. Letzte Nacht versuchte sie aufzustehen, hatte aber große Mühe dabei und fühlte sich anschließend sehr schlecht.« Dirk nickte.
»Ich verstehe. Und was ist mit Ihnen? Ein bißchen Schlaf gefunden?« Beim Sprechen sah er sich in ihrem Quartier um. Irgendwie schien die Musik von Dunkeldämmerung in den Hintergrund getreten zu sein. Sie war noch immer heulend und klagend zu hören und durchdrang jedes Luftmolekül in Kryne Lamiya, aber in seinen Ohren klang sie schwächer, entfernter. Offenbar gewöhnte er sich langsam daran und sonderte sie aus seinem bewußten Hören aus. Die Lichtspiele in den Wänden hatten sich unter dem Einfluß des normalen Tageslichts diesem angeglichen und waren praktisch nicht mehr zu sehen. Darin glichen sie den Glühsteinen von Larteyn.