Abrupt wandte sich Jaan ab, ging in das Gebäude hinein und ließ Dirk allein mit dem Wind und der weißen, von Lamiya-Bailis’ Musik erfüllten Zwielichtstadt auf dem Balkon stehen.
In weiter Ferne ragten Gebilde wie verkrampfte Hände hoch und hielten die anstürmende Wildnis auf. Dirk studierte sie und überdachte dabei Vikary s Worte.
Minuten später kam der Kavalare mit trockenen Augen und ernstem Gesichtsausdruck zurück. »Es tut mir leid«, begann er. »Kein Grund, um …«
»Wir müssen zum Kern der Sache kommen, t’Larien.
Ob Garse uns jagt oder nicht — das Kräfteverhältnis könnte kaum schlechter sein. Für den Fall, daß wir kämpfen müssen, haben wir zwar Waffen, aber niemand, der sie bedient. Gwen ist ein guter Schütze, und furchtlos ist sie auch. Aber im Moment hat sie das Manko der Verletzung und steht ein bißchen wacklig auf den Beinen. Und Sie — kann ich Ihnen trauen? Ich will ganz offen zu Ihnen sein. Ich habe Ihnen einmal vertraut, und Sie haben mich verraten.«
»Wie kann ich diese Frage beantworten?« sagte Dirk.
»Sie brauchen den Versprechungen, die ich Ihnen gebe, keinen Glauben zu schenken. Aber die Braiths wollen auch mich töten, erinnern Sie sich bitte daran. Und Gwen ebenfalls. Oder denken Sie, ich könnte Gwen so leicht verraten, wie ich …« Über die eigenen Worte erschrocken, brach er ab. »… so leicht, wie Sie mich verraten haben«, beendete Vikary den Satz mit hartem Lächeln. »Sie sind ganz schön offen. Nein, t’Larien, ich glaube nicht, daß Sie Gwen verraten würden. Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, daß Sie uns im Stich lassen würden, als wir Sie zum keth machten und Sie diesen Namen akzeptierten. Wir wollten uns nur Ihretwegen duellieren.«
Dirk nickte. »Das weiß ich. Vielleicht habe ich einen Fehler gemacht. Ich kann es nicht sagen. Wenn ich Ihnen die Treue gehalten hätte, wäre ich jetzt tot.«
»Ehrenvoll als keth von Eisenjade gestorben.«
Dirk lächelte. »Gwen bedeutet mir mehr als der Tod.
Ich erwarte, daß Sie wenigstens das verstehen.«
»Das tue ich. Aber sie steht immer noch zwischen uns.
Damit müssen Sie sich abfinden und es als Wahrheit anerkennen. Früher oder später wird sie eine Wahl treffen.«
»Sie hat eine Wahl getroffen, Jaan, als sie mit mir flüchtete. Damit sollten Sie sich abfinden«, sagte Dirk schnell und eigensinnig. Er fragte sich, wieviel davon er selbst glaubte.
»Sie hat das Jade-und-Silber nicht abgelegt«, antwortete Vikary. Er gestikulierte ungeduldig. »Aber das spielt jetzt keine Rolle. Solange wir aufeinander angewiesen sind, werde ich Ihnen vertrauen.« »Gut. Was verlangen Sie von mir?« »Jemand muß nach Larteyn fliegen.«
Dirks Gesichtsausdruck verfinsterte sich. »Warum versuchen Sie mir immer den Selbstmord schmackhaft zu machen, Jaan?« »Ich habe nicht gesagt, daß Sie fliegen müssen, t’Larien«, gab Vikary zurück. »Ich werde den Flug selbst wagen. Natürlich wird er sehr gefährlich werden, aber einer muß unbedingt nach Larteyn.«
»Warum?« »Der Kimdissi.«
»Ruark?« Dirk hatte seinen ehemaligen Gastgeber und Mitverschwörer schon beinahe vergessen.
Vikary nickte. »Seit den Tagen auf Avalon war er mit Gwen befreundet. Obwohl wir uns gegenseitig nie mochten, kann ich ihn nicht im Stich lassen. Die Braiths …«
»Ich verstehe. Wie aber wollen Sie ihn erreichen?«
»Sollte ich heil in Larteyn ankommen, werde ich ihn über Sichtschirm anrufen. Das ist das einzige, worauf ich hoffen kann.« Er zuckte mit einer fatalistischen Geste die Schultern. »Und ich?«
»Sie bleiben hier. Pflegen und bewachen Sie Gwen. Ich überlasse Ihnen eines von Rosephs Lasergewehren.
Wenn sie sich gut erholt hat, geben Sie es ihr. Sie kann damit wahrscheinlich besser umgehen als Sie. Einverstanden?«
»Einverstanden. Es hört sich nicht sehr kompliziert an.« »Ist es auch nicht«, sagte Vikary. »Ich erwarte, daß ihr im sicheren Versteck bleibt und ich euch so vorfinde, wie ich euch verlassen habe, wenn ich mit dem Kimdissi zurückkomme. Solltet ihr fliehen müssen, dann könnt ihr ja auf den anderen Gleiter zurückgreifen. Gwen kennt hier in der Nähe eine Höhle. Sie kann Ihnen den Weg zeigen. Geht in diese Höhle, wenn ihr Kryne Lamiya verlassen müßt.« »Was ist, wenn Sie nicht zurückkommen? Diese Möglichkeit muß man leider ebenfalls ins Auge fassen.«
»In diesem Fall seid ihr wieder auf euch allein gestellt, wie ihr es wart, als ihr aus Larteyn geflohen seid. Ihr hattet bestimmt Pläne. Folgt ihnen, wenn das möglich ist.« Er lächelte gezwungen. »Ich habe mir jedoch fest vorgenommen zurückzukommen. Vergessen Sie das nicht, t’Larien. Denken Sie immer daran.«
In Vikarys Stimme schwang ein Unterton mit, der an scharfkantiges Eisen denken ließ und Dirk an ein anderes Zwiegespräch unter ähnlich frostigen Vorzeichen erinnerte. Mit verblüffender Deutlichkeit nahmen Jaans damalige Worte wieder Gestalt an: Aber ich existiere.
Denken Sie immer daran … Wir sind hier nicht auf Avalon, t’Larien, und heute ist nicht gestern. Wir befinden uns auf einer sterbenden Festivalwelt, einer Welt ohne eigene Normen. Deshalb muß jeder streng die Normen befolgen, die ihm mitgegeben wurden. Jaan Vikary, dachte Dirk mit trotziger Entschlossenheit, hatte zwei Normen nach Worlorn mitgebracht. Er selbst hingegen hatte überhaupt keine — er hatte außer seiner Liebe zu Gwen Delvano nichts mitgebracht.
Gwen schlief noch, als die beiden Männer vom Balkon hereintraten. Vorsichtig, um sie nicht aufzuwecken, durchquerten sie das Zimmer und gingen zur Landeschleuse. Vikary hatte den Braithgleiter gründlich durchsucht. Bevor das ganze Unheil losgebrochen war, hatten Roseph und sein teyn offenbar einen kurzen Jagdausflug in die Wildnis geplant. Welch ein Pech, dachte Dirk, daß sie keinen längeren Flug im Auge hatten.
Aber so, wie die Dinge nun einmal standen, hatte Vikary an Nahrungsmitteln nur vier harte Proteinriegel gefunden. Hinzu kamen zwei Jagdlaser und ein paar Kleidungsstücke, die auf den Sitzen lagen. Einen der Riegel aß Dirk sofort — er war richtig ausgehungert —, die anderen drei steckte er in die Tasche der schweren Jacke, die er sich ausgesucht hatte. Sie war ihm etwas zu weit, aber nicht so weit, daß sie schlotterte.
Rosephs teyn hatte ungefähr seine Größe. Und sie hielt warm — dickes, purpurrot gefärbtes Leder mit Kragen, Aufschlägen und Futter aus schwarzweißem Pelz. Beide Ärmel trugen verwirrende, aufgemalte Muster, rote und schwarze Farben dominierten auf dem rechten, silberne und grüne auf dem linken. Eine kleinere Jacke, die wohl Roseph gehört hatte, nahm Dirk für Gwen mit.
Vikary holte die beiden Lasergewehre hervor, lange Röhren aus schwarzem, glattem Plastik, auf denen kunstvoll getriebene Wolfsköpfe aus weißem Metall befestigt waren. Das erste hing er sich selbst über die Schulter, das zweite gab er mit knappen Bedienungsinstruktionen an Dirk weiter. Die Waffe war sehr leicht und fühlte sich etwas ölig an. Dirk hielt sie unbeholfen in der Hand.