Andererseits freut es mich, daß sie nicht hier sind. So kann man sie wenigstens nicht mißbrauchen. Niemand wird ihnen Schmerzen zufügen. Und sie werden weder verhungern noch verdursten, weil irgendein gedankenloses menschliches Wesen sie einfach vergißt. Jetzt nicht mehr.«
Er tätschelte Gwenafras bereits auf zwanzig Zentimeter angewachsenes blondes Haar.
»Die gleichen Gefühle habe ich auch stets all diesen hilflosen und mißbrauchten Kleinen entgegengebracht.«
»Welch eine Welt ist das, auf der es keine Kinder gibt?« fragte Alice. »Und ebenso keine Tiere? Ob Mißbrauch oder Tierquälerei, man kann sie auch nicht mehr streicheln und liebhaben.«
»So bildet eine Sache auf dieser Welt das Gleichgewicht zu einer anderen«, führte Burton aus. »Man kann keine Liebe ohne Haß haben, keine Freundlichkeit ohne Niedertracht, keinen Frieden ohne Krieg. Auf jeden Fall haben wir auf diese Dinge keinen Einfluß. Die unsichtbaren Herren dieser Welt haben entschieden, daß wir weder über Tiere verfügen noch daß unsere Frauen jemals Kinder gebären werden. Und so sei es.«
Der Morgen des vierhundertsechzehnten Tages ihrer Reise unterschied sich in nichts vom vorhergehenden. Die Sonne erhob sich über die Berggipfel zu ihrer Linken. Der Gegenwind betrug etwa einundzwanzig Kilometer in der Stunde — wie immer. Mit der Sonne stieg auch die Temperatur, die am Nachmittag gegen zwei Uhr dreißig Grad erreichen würde. Die bewegte sich auf einem Zickzackkurs vorwärts, während Burton auf der „Brücke“ stand und mit beiden Händen die Ruderpinne bediente. Der Wind und die Sonnenstrahlen huschten über sein bereits tiefgebräuntes Gesicht. Er trug einen scharlachrot und schwarz karierten Kilt, der ihm fast bis zu den Knien reichte, und um den Hals eine Kette, die er sich aus den Wirbelknochen eines Hornfisches gebastelt hatte. Hornfische erreichten in der Regel eine Länge von zwei Metern, und man hatte ihnen diesen Namen verliehen, weil sie auf der Stirn spitze Auswüchse trugen, die an ein Einhorn erinnerten und etwa fünfzehn Zentimeter lang wurden. Sie lebten dreißig Meter unter dem Wasserspiegel und waren gemeinhin schwer zu fangen. Aber ihre Wirbelknochen eigneten sich fabelhaft zur Herstellung von Halsketten. Aus der Fischhaut machte man feste Sandalen, Waffen oder Schilde, wenn man sie nicht zur Verwendung von starken Tauen oder Gürteln benutzte. Das Fleisch dieser Fische hatte einen köstlichen Geschmack, aber das Wichtigste, was sie ihnen lieferten, stellte das Horn dar: Aus ihm machte man entweder Speerspitzen, Messerklingen oder mit hölzernen Handgriffen versehene Stiletts.
In Burtons unmittelbarer Nähe, eingehüllt in die Blase eines Fisches, lag ein Bogen. Er war aus einem gebogenen Knochen gemacht, der den Kieferbogen des walähnlichen Drachenfisches bildete. Versehen mit einer Darmsaite des gleichen Fisches stellte er eine Waffe von ungeheurer Durchschlagskraft dar, und nur ein sehr starker Mann konnte ihn bedienen. Burton hatte dem vorherigen Besitzer des Bogens nicht weniger als vierzig Zigaretten, zehn Zigarren und einen ganzen Liter Whisky dafür geboten. Aber der Mann hatte abgelehnt. Schließlich hatte Burton — zusammen mit Kazz — das herrliche Stück gestohlen — oder eingetauscht, denn er hatte sich zumindest verpflichtet gefühlt, dafür seinen Eibenholzbogen zurückzulassen.
Mittlerweile war er allerdings zu dem Schluß gelangt, daß er sich wegen dieses Diebstahls keine Gedanken zu machen brauchte, denn der vorherige Besitzer hatte mehrfach damit geprahlt, durch einen Mord in den Besitz der Waffe gelangt zu sein. Und einen Dieb und Mörder zu bestehlen stellte in Burtons Augen kein Verbrechen dar. Dennoch bekam er gelegentlich, wenn er sein Gewissen befragte — was nicht allzuoft der Fall war, wie er zugeben mußte —, ein ungutes Gefühl, wenn er daran zurückdachte.
Burton steuerte die sicher durch eine enge Stelle. Nach etwa vier bis fünf Kilometern weitete sich der Fluß zu einem fünf Kilometer breiten See aus.
Auf der anderen Seite wurde er wieder enger. Er war jetzt kaum noch achthundert Meter breit und bahnte sich seinen Weg durch die hochaufragenden Felswände eines Canyons.
Es würde einige Schwierigkeiten wegen der Wirbel und Strömungen geben, weil die Möglichkeiten eines Ausweichens in einer Enge wie dieser begrenzt waren.
Dennoch machte Burton sich keine Sorgen: Er hatte Wasserstraßen wie diese bereits Dutzende von Malen durchfahren, ohne daß etwas Bemerkenswertes geschehen war. Dennoch erschien jede Durchfahrt dieser Art wie eine Neugeburt des Bootes. Es war, als würden die Wasser es aus irgend etwas herausspülen, und ebenso bestand bei jeder dieser Passagen die Möglichkeit, ein Abenteuer zu erleben, einer Offenbarung teilhaftig zu werden.
Sie glitten an einem Gralstein vorüber, der sich nicht mehr als sechs Meter von ihnen entfernt befand. Auf der Ebene zu ihrer Rechten, die kaum mehr als siebenhundert Meter breit war, hielten sich viele Menschen auf, die ihnen etwas zuschrien, winkten, drohend die Fäuste hoben oder Obszönitäten herüberbrüllten. Dennoch schienen die Leute ihnen nicht feindselig gesinnt zu sein; andere Völker benutzten eben andere Formen der Begrüßung. Der hier lebende Stamm bestand aus kleinen, dunkelhäutigen, schwarzhaarigen und zerbrechlich aussehenden Menschen, deren Sprache laut Ruachs Ansicht einem Volk zugeschrieben werden mußte, das möglicherweise protohamitisch-semitische Wurzeln hatte. Auf der Erde hatte es irgendwo in Nordafrika oder Mesopotamien gelebt, in einer Zeit, in der diese Landschaften noch weitaus fruchtbarer gewesen waren. Zwar trugen sie ebenfalls Kilts, aber die Frauen liefen barbusig herum und benutzten die Büstenhalter entweder als Halsschmuck oder als Kopftücher. Sie bevölkerten das ganze rechte Ufer auf einer Länge von sechzig Gralsteinen, was neunzig Kilometern gleichkam. Vor ihnen hatte sich eine Zone befunden, deren Einwohner Ceylonesen des zehnten Jahrhunderts gewesen waren. Aber auch diese waren keine homogene Gruppe gewesen. Auf dem einhundertzwanzig Kilometer langen Uferstreifen hielt sich noch eine Minorität präkolumbianischer Mayas auf.
»Dieser zeitliche Schmelztiegel«, hatte Frigate über die dermaßen verstreut lebenden Völker gesagt, »stellt das größte anthropologische und sozialwissenschaftliche Unternehmen dar, das je gestartet wurde.«
Seine Feststellung traf zu, denn in der Tat hatte es den Anschein, als habe man alle je existierenden Völker der Erde hier zusammengebracht, damit sie etwas voneinander lernten. Und es gab tatsächlich einige Fälle, wo es sich anfangs ratlos gegenüberstehende Gruppen geschafft hatten, in einem relativ guten Einvernehmen zusammenzuleben. Natürlich gab es auch Fälle, wo man sich weiterhin die Köpfe einschlug und alles tat, um den Gegner auszurotten und seine Überlebenden zu versklaven.
Eine Zeitlang war nach dem Erwachen die Anarchie die gebräuchlichste Herrschaftsform gewesen. Die Menschen hatten sich in kleinen Gruppen zusammengeschlossen, waren auf Entdeckungsreisen gegangen und deswegen beieinandergeblieben, um sich gegenseitig vor Außenstehenden zu schützen.
Aber dann waren nach und nach die Führergestalten an die Macht zurückgedrängt, während sich in ihrem Dunstkreis die ersten willigen Untertanen versammelten, die ohne einen Führer nicht auszukommen glaubten.
Viel öfter kam es allerdings vor, daß ausgeprägte Führernaturen dazu übergingen, sich ein ihnen genehmes Volk zu erwählen.
Eines der politischen Systeme hatte man mit der Bezeichnung „Gralsklavenschaft“ versehen. In ihm gebot eine dominierende Gruppe über eine größere Anzahl schwächerer Gefangener, denen man gerade soviel Nahrung zubilligte, um zu verhindern, daß sie verhungerten, weil mit ihrem Tod auch die ihnen gehörenden Grale aufgehört hätten zu funktionieren. Aber alles andere — Zigaretten, Zigarren, Marihuana, Traumgummi, Alkohol und die gelegentlichen Leckerbissen — nahm man ihnen weg.