Mindestens dreißigmal, wenn die sich einem am Ufer gelegenen Gralstein genähert hatte, war man mit solchen Sklavenkolonien aneinandergeraten. Jetzt war man vor diesen Leuten auf der Hut, und es kam des öfteren vor, daß an solche Landstriche anrainende Gruppen die Besatzung des Bootes vor einer Weiterreise warnten. Zwanzigmal hatten Sklavenhaltergruppen der vom Ufer aus Boote entgegengeschickt, und daß es Burton und seinen Leuten gelungen war, sie ausnahmslos abzuschütteln, war mehr als einmal ein reiner Glücksfall gewesen. Fünfmal hatten sie sich allerdings auch gezwungen gesehen, das Boot zu wenden und wieder flußabwärts zu segeln. Natürlich war die den Verfolgern auf diese Weise immer ohne Schwierigkeiten entkommen, zumal diese noch eine gewisse Scheu zeigten, die Grenzen ihrer eigenen Domäne zu überschreiten. In diesen Fällen hatte man stets die Nacht abwarten müssen, um sich an den Sklavenkolonien vorbeizuschmuggeln.
Auch die Bewohner dieses Gebietes waren, nachdem sie herausgefunden hatten, daß das Auftauchen der Fremden nichts Böses bedeutete, äußerst zuvorkommend. Ein aus dem achtzehnten Jahrhundert stammender Moskowiter warnte Burton allerdings davor, weiterzureisen, da es auf der anderen Seite des Flusses mehrere Sklavenhaltergruppen gäbe. Allerdings wußte der Mann nichts Genaues; auch hier reichte das Gebirge bis an das Wasser heran und schnitt die Menschen von ihren Nachbarn ab. Es seien aber bereits mehrere Boote durch die Enge gefahren. Die meisten von ihnen seien niemals zurückgekehrt. Forscher, denen die Flucht aus diesen Gebieten gelungen wäre, hätten ausnahmslos von schrecklichen Zuständen berichtet, die auf der anderen Seite der Enge herrschten.
Man belud daraufhin die mit Bambusschößlingen, getrocknetem Fisch und anderen Dingen, da man damit rechnete, über eine Zeitperiode von wenigstens vierzehn Tagen von jedem Gralstein abgeschnitten zu sein.
Es würde noch eine halbe Stunde dauern, bis man in die Enge eindrang. Burton richtete seine Aufmerksamkeit auf den vor ihnen liegenden Wasserweg und schaute der Besatzung zu, die sich auf dem Vordeck verteilt hatte und irgendwelchen Beschäftigungen nachging. Manche lagen einfach nur faul in der Sonne und genossen die leichte Brise, die ihre Körper umschmeichelte.
John de Greystock befestigte die dünnen Gräten eines Hornfisches an den Enden seiner Pfeile. In einer Welt, in der keine Vögel existierten — und es somit auch keine Federn gab —, boten sie einen günstigen Ersatz. Greystock — oder Lord Greystoke, wie Burton ihn aus einem etwas amüsierten Gefühl heraus zu nennen pflegte — hatte sich als guter Mann entpuppt, wenn es zu Kämpfen kam oder harte Arbeit zu tun war. Er war ein interessanter Unterhalter, hatte eine Menge von unanständigen Geschichten auf Lager und steckte voller Anekdoten über die Gascogne, die Frauen oder seinen ehemaligen König Edward.
Natürlich war er auch die beste Informationsquelle über seine Zeit, die man sich nur wünschen konnte. Aber er konnte ebenso dickköpfig und in gewissen Dingen auch engstirnig sein. An Sauberkeit schien es ihm auch nicht sonderlich zu liegen. Er behauptete zwar, in seinem früheren Dasein ausgesprochen fromm gewesen zu sein — was möglicherweise der Wahrheit entsprach; würde er sonst dem Gefolge des Patriarchen von Jerusalem angehört haben? —, aber nun, nachdem sich sein Glaube als Luftblase erwiesen hatte, gehörten Priester zu den beliebtesten Objekten seines Hasses. Nichts machte ihm mehr Spaß, als Priester, die ihm über den Weg liefen, mit seinem Hohn und Spott zu reizen — in der Hoffnung, daß sie ihn angreifen würden. Manche, die dies taten, waren danach dem Tod näher als dem Leben. Zwar hatte Burton versucht, dies zu unterbinden (allerdings in sanftem Tonfall; denn wer einem Greystock gegenüber ausfällig wurde, tat das besser nur, wenn er auch bereit war, auf Leben und Tod mit ihm zu kämpfen), aber alles, was er ihm vermitteln konnte, war, daß man sich als Gast in einem fremden Land benahm, wie es sich für Gäste geziemte — zumal wenn die Gastgeber ihnen zahlenmäßig überlegen waren. De Greystock gab Burton in dieser Beziehung recht, aber er konnte es sich dennoch nicht verkneifen, jedem Betbruder zumindest einige bissige Bemerkungen an den Kopf zu werfen. Glücklicherweise hielten sie sich nicht oft in Gebieten auf, wo es christliche Priester gab, und die meisten von ihnen gaben sich ohnehin nicht als solche zu erkennen.
Neben dem Briten stand dessen derzeitige Frau. Sie war 1637 als Mary Rutherford geboren worden und 1674 als Lady Warwickshire gestorben. Auch sie war Engländerin, stammte aber aus einer Zeit dreihundert Jahre nach De Greystocks Leben, weswegen es ständig zu heftigen Differenzen in ihrem Handeln und wegen des Benehmens kam. Burton rechnete damit, daß die beiden nicht mehr allzu lange zusammenbleiben würden.
Kazz hatte sich auf dem Deck ausgestreckt. Sein Kopf lag auf dem Schoß Fatimas, einer türkischen Frau, die der Neandertaler vierzig Tage zuvor während einer Essenspause an einem Gralstein kennen gelernt hatte. Fatima war, wie Frigate es ausdrückte, »geil auf Haare«, und das schien in der Tat die einzige Erklärung dafür zu sein, daß die ehemalige Frau eines Bäckers aus Ankara — die dem siebzehnten Jahrhundert entstammte — mit einer ungewöhnlichen Besessenheit an Kazz hing. Obwohl sie nahezu alles an ihm aufregend fand, war es doch Kazz’ Haar, das sie in wahre Ekstase versetzte.
Das verwunderte nicht nur die anderen, sondern auch Kazz selbst. Während der ganzen langen Schiffsreise hatte er nicht ein einziges Mal eine Frau seiner Spezies gesehen, obwohl er davon gehört hatte, daß es einige geben sollte.
Die meisten Frauen hielten sich — seines tierhaften Äußeren und der starken Behaarung wegen — von ihm fern. Bevor er auf Fatima gestoßen war, war es ihm nicht gelungen, eine ständige Gefährtin zu finden.
Der kleine Lev Ruach lehnte sich gegen die Bugreling und bastelte aus der Haut eines Hornfisches eine Schleuder. Neben ihm auf dem Boden stand ein kleiner Beutel, der etwa dreißig ausgewählte Steine enthielt, die er an ihrem letzten Haltepunkte gesammelt hatte. Er unterhielt sich mit Esther Rodriguez, deren weiße Zähne blitzten, während sie ununterbrochen redete.
Esther hatte Tanya ersetzt, die Lev, noch bevor die erneut aufgebrochen war, unter dem Pantoffel gehabt hatte. Obwohl Tanya eine hübsche und respektgebietende kleine Frau gewesen war, hatte sie dennoch nicht damit aufhören können, Lev nach ihren Maßstäben zu erziehen. Nachdem Lev herausgefunden hatte, daß sie bereits ihren Vater, einen Onkel, zwei Brüder und ebenso ihre beiden Ehemänner nach ihrem Gusto zu formen pflegte, konnte er sich den Konsequenzen nicht mehr widersetzen. Ihre laute Stimme, die keinerlei Rücksicht darauf nahm, ob gerade jemand in der Nähe war, wenn sie dem armen Lev ihre Ansichten aufdrängte, war überall zu hören gewesen.
Schließlich hatte Lev eines Tages, als die zum Auslaufen bereit war, einen Riesensprung an Bord gemacht, sich umgedreht und gesagt: »Lebewohl, Tanya.
Ich kann es einfach nicht mehr länger mit einer Großschnauze aus der Bronx aushalten. Such dir einen anderen, möglichst einen, der in deinem Sinne perfekt ist.«
Tanya hatte geschluckt, war blaß geworden, und dann ging ihre Stimme in einem hohen Kreischen über. Sie hatte noch gekeift, als die bereits munter flußaufwärts fuhr und längst außer Hörweite war. Die Mannschaft hatte gelacht und Lev gratuliert, der lediglich traurig lächelte. Zwei Wochen später war er dann in einem Gebiet, in dem sich vorwiegend Libyer aufhielten, auf Esther, eine dem fünfzehnten Jahrhundert entstammende sephardische Jüdin gestoßen.
»Warum versuchst du dein Glück nicht mal mit einer Nichtjüdin?« hatte Frigate ihn gefragt.
Lev zuckte die mageren Schultern. »Das habe ich schon. Aber früher oder später gerät man immer wieder in einen Riesenkrach hinein, und sie verlieren ihre gute Erziehung und nennen einen Judenlümmel. Nicht daß das jüdische Frauen nicht auch täten, aber bei denen macht mir das eben weniger aus.«