»Wenn ihr aufgebt, wird euch nichts geschehen — aber wenn ihr weiterkämpft, habt ihr die schlimmste Folter zu erwarten!« Er sprach Deutsch mit ungarischem Akzent.
Anstelle einer Antwort deckten Burton und Alice den Gegner mit einem Pfeilhagel ein. Alices erster Pfeil verfehlte zwar den Kapitän, traf aber den Steuermann, der zurücktaumelte und über die Reling fiel. Auf der Stelle begann das gegnerische Schiff abzudrehen. Mit einem Sprung übernahm der Kapitän das Ruder, und im gleichen Moment traf ihn ein Pfeil Burtons in die Kniekehle.
Mit einem ungeheuren Krach prallten die beiden Verfolgerschiffe aufeinander.
Holz knirschte und barst. Burton sah Männer über Bord fallen und hörte Gegner schreien. Die kleineren Boote gerieten in das Getümmel hinein, versuchten ihm zu entgehen und trugen schwere Schäden davon. Selbst wenn die Schiffe der Angreifer nicht sanken, sie waren zumindest außer Gefecht gesetzt.
Aber noch bevor sie sich ineinander verkeilten, war es einigen Bogenschützen gelungen, die Hadji mit Schüssen einzudecken. Eine Salve Brandpfeile traf die Grassegel, die sofort Feuer fingen. Der Wind verbreitete die Flammen schnell.
Burton übernahm wieder die Ruderpinne und schrie Befehle. Die Mitglieder der Gruppe schöpften in aller Eile mit ihren Gralen Wasser und versuchten das Feuer zu löschen. Loghu, die wie ein Affe klettern konnte, bestieg, ein zusammengerolltes Seil über der Schulter, den Mast. Von oben herab warf sie das Seilende auf das Deck und zog die Wasserbehälter zu sich hinauf.
Mehrere der Schoner und ein paar der Kriegskanus begannen jetzt aufzuschließen. Ein Schiff befand sich genau auf dem Kurs der Hadji. Burton warf erneut das Steuer herum, mußte aber erkennen, daß das Boot ihm wegen des zusätzlichen Gewichts Loghus auf dem Mast nicht mehr in der gewünschten Weise gehorchte. Es drehte sich. Sogleich feuerten die Verfolger eine neue Brandpfeilsalve auf das Segel ab. Das Feuer breitete sich immer weiter aus.
Mehrere der Pfeile trafen das Deck, so daß Burton schon glaubte, der Gegner habe es sich anders überlegt und lege es nun darauf an, sie alle zu töten.
Aber das war ein Irrtum. Es hatte sich lediglich um Fehlschüsse gehandelt.
Und wieder befand sich die Hadji zwischen zwei feindlichen Schonern. Die Kapitäne der gegnerischen Schiffe grinsten. Offenbar lag eine lange und kampflose Zeit hinter ihnen; sie schienen sich beide auf einen Kampf zu freuen. Die Mannschaften hielten sich geduckt hinter der Reling verborgen; nur die Offiziere, Steuerleute und Bogenschützen waren dem Pfeilhagel von der Hadji ausgesetzt. Die Luft war von einem lauten Schwirren erfüllt, dann ergoß sich eine neue Ladung brennender Pfeile über das Deck. Das Segel brannte nun an einem Dutzend verschiedener Stellen. Einige Pfeile trafen den Mast, ein ganzes Dutzend versank zischend im Wasser, während ein einzelner nur um wenige Zentimeter Burtons Kopf verfehlte.
Während Esther das Ruder übernahm, schossen Alice, Ruach, Kazz, De Greystock, Wilfreda und Burton, was das Zeug hielt. Loghu verharrte auf der Mastspitze und wartete auf einen günstigen Moment, um sich wieder herunterzulassen. Mit fünf Pfeilen trafen die Verteidiger der Hadji drei Ziele: einen Kapitän, einen Rudergänger und einen Matrosen, der seinen Kopf im falschen Moment erhob.
Esther schrie auf. Burton wirbelte herum. Das Kriegskanu hatte sich nun am Heck der Hadji vorbeimanövriert und näherte sich dem Bug des Schiffes. Es gab keine Möglichkeit, der bevorstehenden Kollision auszuweichen. Die beiden am Bug stehenden Männer machten sich sprungbereit, während die Ruderer aufstanden. Der Bug der Hadji krachte gegen das Kanu, riß es in der Mitte auf und sorgte dafür, daß die abwartende Mannschaft über Bord ging. Der Aufprall führte dazu, daß auch die Besatzung der Hadji zeitweilig das Gleichgewicht verlor. De Greystock verlor die Balance und fiel ins Wasser.
Auch Burton stürzte. Er fiel der Länge nach auf die Planken und riß sich die Haut auf.
Esther hatte die Gewalt über die Ruderpinne verloren und rollte hilflos über das Deck, bis sie gegen die Kajütenwandung prallte. Unbeweglich blieb sie dort liegen.
Burton schaute nach oben. Das Segel stand jetzt in hellen Flammen und konnte nicht mehr gerettet werden. Loghu war verschwunden; möglicherweise hatte sie im Moment des Zusammenpralls den Halt verloren. Er sprang auf und sah De Greystock zur Hadji zurückschwimmen. In seiner Umgebung wurde das Wasser von den wild um sich schlagenden Gegnern aufgewühlt. Den Schreien nach zu urteilen, die die Männer ausstießen, konnten nur wenige von ihnen schwimmen.
Während Burton sich die Beschädigungen ansah, befahl er den anderen, De Greystock an Bord zu ziehen und nach Loghu Ausschau zu halten. Der Bug der HADJI wies ein großes Leck auf. Wasser drang in das Schiff ein. Der Qualm, den das lichterloh brennende Segel erzeugte, legte sich schwer auf ihre Lungen. Alice und Gwenafra husteten bereits.
Aus nördlicher Richtung raste ein weiteres Kriegskanu auf sie zu. Die beiden Schoner näherten sich ebenfalls wieder.
Entweder kämpften sie jetzt weiter, in der Hoffnung, möglichst viele ihrer Gegner zu töten, und begaben sich anschließend in Gefangenschaft — oder sie versuchten schwimmend zu entkommen. Was sie auch taten: Es würde unweigerlich damit enden, daß man sie gefangennahm.
Sie hatten inzwischen Loghu und De Greystock wieder an Bord gezogen. Frigate meldete, daß Esther noch immer besinnungslos sei. Ruach fühlte ihren Puls, schaute ihr in die Pupille und kehrte dann zu Burton zurück.
»Sie ist nicht tot; aber sie ist völlig erledigt.«
Burton sagte: »Die Frauen sollten sich darüber im klaren sein, was sie erwartet. Es ist natürlich ihre eigene Sache, aber ich würde vorschlagen, daß sie sich ins Wasser stürzen und sich nicht gegen das Ertrinken wehren.
Sie würden schon morgen wieder irgendwo aufwachen, ohne Schaden zu nehmen.«
Gwenafra kam aus dem Kajütenaufbau, legte die Arme um Burtons Hüften und sah ihn mit fragendem Blick an. Sie fürchtete sich. Burton streichelte ihren Rücken und rief: »Alice! Nimm sie mit dir!«
»Wohin denn?« fragte Alice. Sie warf einen Blick auf das sich nähernde Kanu und dann auf Burton. Eine Qualmwolke hüllte sie plötzlich ein und erzeugte einen Hustenanfall.
»Ins Wasser«, sagte Burton.
Er deutete auf den Fluß.
»Ich kann nicht«, erwiderte Alice.
»Du würdest es ebenfalls nicht zulassen, daß die Kleine den Männern in die Hände fiele. Auch wenn sie nur ein kleines Mädchen ist — das würde diese Burschen nicht davon abhalten, über sie herzufallen.«
Alice sah ihn an, als sei sie kurz davor, in Tränen auszubrechen. Aber kein klagender Laut drang über ihre Lippen.
Schließlich sagte sie: »Na gut. Es ist jetzt keine Sünde mehr, sich selbst das Leben zu nehmen. Ich hoffe nur…«
»Ja«, sagte Burton.
»Der Platz, an dem wir nachher wieder aufwachen, kann genauso schlimm und schrecklich sein wie dieser hier«, gab Alice zu bedenken. »Und außerdem wird Gwenafra dann allein sein. Du weißt, daß die Chance, daß wir beide am gleichen Ort wieder zu uns kommen, sehr gering ist.«
»Daran kann man nichts ändern«, sagte Burton.
Alice biß sich auf die Lippen. »Ich werde bis zum letzten Augenblick kämpfen. Und dann…«
»Dann könnte es bereits zu spät sein«, entgegnete Burton. Er nahm seinen Bogen und zog einen Pfeil aus dem Köcher. De Greystock hatte seine Waffe verloren und benutzte die von Kazz. Der Neandertaler legte einen Stein in seine Schleuder und begann, sie über seinem Kopf herumzuwirbeln. Auch Lev besaß eine solche Waffe. Monat benutzte Esthers Bogen, da sein eigener ebenfalls verschwunden war.
Der Kapitän des Kriegskanus schrie plötzlich auf deutsch: »Legt die Waffen nieder! Euch wird nichts geschehen!«
Eine Sekunde später traf ihn ein Pfeil Alices in die Brust. Er stürzte zwischen seine Ruderer. Ein weiteres Geschoß — es stammte von De Greystock — traf einen zweiten Mann, der über Bord fiel und im Wasser landete. Kazz’ Schleuder traf einen der Ruderer an der Schulter, und der Mann brach mit einem Schrei zusammen. Ein weiterer Stein verletzte einen seiner Kollegen am Kopf. Der Mann ließ sein Paddel los.