Zunächst geschah nichts Besonderes. Die Israelis zogen sich von Burton und Frigate, als diese sich ihnen näherten und mit ihnen zu reden versuchten, allerdings zurück. Die Sterne tauchten am Himmel auf und überfluteten das Lager innerhalb der Umzäunung mit einem Lichtschein, der dem des Mondes auf der Erde in keiner Weise nachstand.
Die Gefangenen verschwanden in den Baracken, steckten die Köpfe zusammen und tuschelten. Obwohl jeder einzelne von ihnen müde war, gelang es keinem zu schlafen. Die Spannung war so groß, daß die Wachen sie durch die Hüttenwände hindurch hätten spüren müssen. Aber sie marschierten weiterhin in ihren Laufgängen, unterhielten sich und warfen ab und zu einen Blick in das unter ihnen liegende Gehege.
»Bevor es nicht regnet, wird Targoff nichts unternehmen«, sagte Burton. Er gab einige Befehle. Frigate sollte die erste Wache übernehmen, Spruce die zweite, er selbst die dritte. Er legte sich auf seinen Strohsack, ignorierte das Gemurmel der Stimmen und die Schritte derjenigen, die auf und ab gingen, und schlief sofort ein.
Als Spruce ihn berührte, hatte Burton den Eindruck, die Augen eben erst geschlossen zu haben. Rasch stand er auf, gähnte und reckte sich. Die anderen waren bereits alle wach. Innerhalb weniger Minuten erschienen die ersten Wolken am Himmel. Sie verschluckten das Sternenlicht. Zehn Minuten später rollte der Donner, und über den Bergen zuckten die ersten Blitze.
Bald wurden sie heller. In ihrem Schein konnte Burton erkennen, daß die Wachen sich in den überdachten Türmen der Umzäunung untergestellt hatten und sich zusätzlich mit ihren Turbanen vor dem Regen schützten.
Schnell eilte er von seiner Baracke zu nächsten. Targoff stand am Eingang.
Burton baute sich vor ihm auf und fragte: »Gilt der Plan noch immer?«
»Du solltest es besser wissen«, versetzte Targoff wütend. Ein plötzlicher Blitz zeigte Burton sein verzerrtes Gesicht. »Du Judas!«
Er machte einen Schritt nach vorn, und ein gutes Dutzend Männer folgte ihm.
Burton wartete nicht ab; er griff an. Im gleichen Moment, in dem er sich nach vorne warf, hörte er ein seltsames Geräusch. Er hielt inne, und auch Targoff warf einen Blick hinaus. Ein erneuter Blitz erhellte die Umgebung so stark, daß sie unterhalb der Umzäunung einen Wächter liegen sehen konnten.
Er lag mit dem Gesicht nach unten im Schmutz.
Als Burton sich umwandte, ließ Targoff die Fäuste sinken und sagte: »Was geht da vor, Burton?«
»Warte«, erwiderte der Engländer. Er hatte zwar ebenso wenig Ahnung von dem, was sich dort abspielte, wie der Israeli, aber alles Unerwartete konnte ihnen jetzt nur zum Vorteil gereichen.
Die Helligkeit eines Blitzes beleuchtete plötzlich die quadratische Gestalt Kazz’, der über die hölzerne Galerie der Umzäunung lief. Eine große Steinaxt schwingend, stürmte er auf eine Gruppe von Wächtern zu, die sich jetzt genau in dem Winkel der Umzäunung aufhielten, an dem zwei der Palisadenwände zusammentrafen. Wieder ein Blitz. Die Wächter versuchten zu flüchten.
Dunkelheit. Als es erneut helle wurde, lag einer von ihnen am Boden; die letzten beiden rannten den Gang in verschiedenen Richtungen davon.
Eine Ansammlung von Männern auf der anderen Seite der Umzäunung deutete jetzt darauf hin, daß das Wachpersonal endlich begriff, was sich hier abspielte. Schreiend rannten sie mit erhobenen Speeren den Gang entlang.
Kazz, der sie völlig ignorierte, kletterte eine Bambusleiter in die Umzäunung hinab und zog dabei ein Bündel Lanzen hinter sich her. Im Licht des nächsten Blitzes konnte man erkennen, wie er sich erneut einem Rudel von Bewachern entgegenwarf.
Burton schnappte sich eine der Lanzen und kletterte die Leiter hinauf. Die anderen folgten ihm auf dem Fuße. Auch die Israelis ließen es sich nicht nehmen, Rache zu üben. Der Kampf war blutig, aber kurz. Als die Wachtposten entweder verwundet oder tot am Boden lagen, blieben nur noch die in den Wachttürmen übrig. Jemand brachte Leitern. Man stellte sie auf und lehnte sie gegen das Tor. Binnen weniger Sekunden hatten die ersten Männer die Palisadenwand überklettert, sprangen auf der anderen Seite hinab und öffneten das Tor. Zum ersten Mal hatte Burton wieder eine Chance, mit Kazz zu sprechen.
»Ich hatte schon angenommen, du hättest uns verkauft.«
»Nein. Nicht ich, Kazz«, erwiderte Kazz vorwurfsvoll. »Du weißt, ich lieben dich, Burton-naq. Du bist mein Freund, mein Häuptling. Ich nur gegangen zu Feinde über, weil wollte gute Gelegenheit abwarten. Ich mich wundern, warum du nicht das gleiche tun. Du kein Dummkopf.«
»Du bist auch keiner«, erwiderte Burton. »Aber ich konnte es einfach nicht über mich bringen, die Sklaven zu töten.«
Ein Blitzstrahl zeigte, daß Kazz die Achseln zuckte. Er sagte: »Mir nicht weh tun. Ich sie nicht kennen. Und Göring sagen, daß sie sowieso sterben.«
»Es war gut, daß du dir ausgerechnet diese Nacht aussuchtest, um uns zu retten«, sagte Burton, ohne Kazz darüber zu informieren, warum. Er wollte ihn nicht verwirren. Außerdem gab es im Moment wichtigere Dinge zu erledigen.
»Nacht heute ist gute Nacht«, sagte Kazz. »Große Schlacht wird bald sein. Tullius und Göring beide betrunken und streiten. Sie kämpfen; ihre Männer kämpfen. In Zeit, wo sie einander töten, Eindringlinge kommen. Braune Männer von anderes Ufer… Wie ihr sie nennen? Onondagas, ja. Ihre Boote kamen kurz vor Regen. Sie kommen und stehlen Sklaven. Vielleicht wollen auch nur kämpfen. So ich dachte, Nacht gut für Plan für befreien mein Freund Burton-naq.«
So plötzlich, wie er gekommen war, versiegte der Regen wieder. Aus der Ferne drangen Schreie zu ihnen herüber. Sie schienen aus der Richtung des Flußufers zu kommen. Überall erklang dröhnender Trommelschlag. Zu Targoff gewandt sagte Burton: »Wenn wir fliehen wollen, sollten wir es schnell tun.
Aber wir können sie auch angreifen.«
»Ich habe vor, diese Ungeheuer, die uns versklavten, auszurotten«, erwiderte Targoff grimmig. »Zudem gibt es in der Nähe noch andere Umzäunungen. Ich habe bereits Männer ausgesandt, um die Tore zu öffnen. Die meisten sind zu weit entfernt, als daß wir sie schnell erreichen könnten, denn sie liegen kilometerweit auseinander.«
Inzwischen war die Baracke der Freiwache gestürmt worden. Die Sklaven bewaffneten sich und machten sich auf, den Kampfgeräuschen entgegenzuziehen.
Burtons Gruppe marschierte auf der rechten Flanke. Man hatte noch keine siebenhundert Meter zurückgelegt, als man auf die ersten Toten und Verwundeten stieß. Es waren ebenso Weiße wie Onondagas.
Trotz des heftigen Regengusses war irgendwo ein Feuer ausgebrochen. Im Schein der immer heller lodernden Flammen entdeckte Burton, daß es sich um das Langhaus handelte. In seinem Schatten kämpften mehrere Gestalten. Die geflohenen Gefangenen rannten über die Ebene, was unter den Kämpfenden beim Langhaus zu einer Panik führte. Ein Teil von ihnen brach aus und rannte davon. Sogleich heftete sich ein Sklaventrupp jubelnd an seine Fersen.
»Da ist Göring«, sagte Frigate. »Sein Fett wird ihm jedenfalls nicht dabei dienlich sein, zu entkommen, soviel steht mal fest.«
Burton konnte den dicken Deutschen erkennen, der seinen Beinen offenbar das Letzte abverlangte. Dennoch vergrößerte sich der Abstand zwischen ihm und seinen fliehenden Leuten immer mehr. »Ich möchte nicht, daß die Indianer die Ehre, ihn getötet zu haben, für sich beanspruchen«, sagte Burton. »Wir schulden es Alice einfach, ihn uns zu schnappen.«
Da Campbells große Gestalt die der anderen um mehrere Köpfe überragte, gab er für Burtons Speer ein geradezu ideales Ziel ab. Für den Schotten schien die Lanze aus dem Nichts zu kommen. Er versuchte sich im letzten Moment zur Seite zu werfen, aber es war zu spät. Die Spitze drang zwischen Brust und rechter Schulter ein, und er stürzte zu Boden. Einen Moment später versuchte er wieder aufzustehen, aber Burton schlug ihn nieder.
Campbell rollte die Augen, von seinen Lippen tropfte Blut. Er deutete auf eine weitere Wunde, ein tiefes Loch unterhalb der Rippen. »Du… deine Frau… Wilfreda… hat das getan«, röchelte er. »Aber ich habe sie umgebracht, diese Hündin…«