Выбрать главу

Burton fletschte die Zähne. Sie leuchteten in seinem finsteren Gesicht geradezu auf. Er schwang den Gral wie eine Waffe in der Hand.

»Ich habe ebenso wenig darum gebeten, hier zu leben, wie ich darum gebeten habe, auf der Erde zu existieren. Ich habe jedenfalls keine Lust, mich dem Diktat irgendwelcher Unbekannten zu unterwerfen! Ich will das Ende des Flusses erreichen. Und wenn ich das nicht schaffe, so kann ich immerhin unterwegs noch einiges lernen und meinen Spaß dabei haben!«

Mittlerweile begannen die ersten Leute ihre Hütten zu verlassen. Sie gähnten und rieben sich die Augen. Ruach schenkte ihnen keinerlei Aufmerksamkeit, sondern schaute dem Boot nach, auf dem man bereits die Segel setzte, um sich auf die Reise zu begeben. Burton übernahm das Ruder; er drehte sich nur einmal um und winkte mit dem Gral, auf dessen Hülle die Reflexe der Sonnenstrahlen kleine Blitze schleuderten.

Ruach hatte das Gefühl, daß Burton glücklich darüber war, vom Schicksal zu diesem Schritt gezwungen worden zu sein. Nun war es ihm möglich, sich den Verpflichtungen, die ihr kleiner Staat ihnen auferlegte, zu entziehen. Er konnte aus seinem Leben machen, was er wollte, und sich geradewegs ins nächste große Abenteuer stürzen.

»Ich glaube, es ist am besten so«, murmelte Ruach vor sich hin. »Während der eine sein Glück in seinem Heim findet, existiert es für den anderen nur auf der staubigen Landstraße. Es ist allein seine Sache, zu entscheiden, wo er sich wohler fühlt. Ich gleiche wohl eher diesem Charakter, den Voltaire einst beschrieb — wie hieß er doch gleich? Ich glaube, die irdischen Dinge beginnen mir bereits zu entgleiten, dem, der zu Hause bleibt und seinen kleinen Garten kultiviert.«

Er schwieg und schaute dem entschwindenden Boot nach.

»Wer weiß? Vielleicht wird er Voltaire sogar eines Tages treffen.«

Ruach stieß einen Seufzer aus. Dann lächelte er.

»Andererseits ist es natürlich auch möglich, daß ich ihm begegnen werde!«

19

»Ich hasse dich, Hermann Göring!«

Die Stimme donnerte in seinen Ohren und verstummte so plötzlich, als habe sie nie existiert.

Auf dem Höhepunkt seines beinahe hypnotischen Schlafes angekommen, wußte Burton, daß er träumte. Aber er konnte nichts dagegen tun.

Der erste Traum kehrte zurück.

Die Geschehnisse waren nebelhaft und verschwommen. Ein Blitzstrahl zuckte auf ihn nieder. Er schwebte wieder in dem mysteriösen Nichts, in dem sich die schwebenden Körper langsam drehten wie in einem Grill. Ein weiterer Blitz der namenlosen Wächter traf ihn und schläferte ihn wieder ein. Eine stark geraffte Fassung seines damaligen Traumes vor der Wiedererweckung zog an seinem inneren Auge vorüber.

Gott — ein gutaussehender Mann in der Kleidung eines Gentlemans der Viktorianischen Ära — schlug ihm mit einem eisernen Stock in die Rippen und erzählte ihm, daß er die Schuld des Fleisches zu begleichen habe.

»Was?« fragte Burton. »Welchen Fleisches?« Ganz schwach wurde ihm bewußt, daß er im Schlaf sprach. In seinem Traum waren die Worte nicht zu hören.

»ZAHL SIE ZURÜCK!« sagte Gott. Sein Gesicht schmolz dahin und verwandelte sich in das Burtons.

In dem Traum, der nun fünf Jahre zurücklag, hatte Gott nicht geantwortet.

Diesmal sagte er: »DU SOLLTEST DIE MÜHE MEINER ARBEIT ZU SCHÄTZEN WISSEN, DU NARR! ES HAT MICH EINE MENGE ZEIT UND NOCH VIEL MEHR SCHMERZEN GEKOSTET, DIR UND ALL DIESEN ANDEREN UNWÜRDIGEN TÖLPELN EINE ZWEITE CHANCE ZU GEBEN.«

»Eine zweite Chance?« fragte Burton. »Wozu?« Er fürchtete sich vor Gottes Antwort. Aber noch mehr ängstigte es ihn, daß Gott, der All-Vater — erst jetzt sah Burton, daß das Auge Jahwe-Odins verschwunden war und aus der leeren Höhle nichts anderes als das Höllenfeuer leuchtete, ihm keine Antwort gab. Er war gegangen. Nein — er hatte sich in einen riesigen grauen Turm verwandelt, der sich zylindrisch aus den gleichfarbenen Nebelfeldern erhob und sich dem Brüllen der See entgegenstemmte.

»Der Gral!«

Erneut sah er den Mann, der ihm von dem Großen Gral erzählt hatte. Aber auch er wußte davon lediglich durch einen anderen Mann, der sich seinerseits auf die Erzählungen einer Frau berief, die… und so fort. Der Große Gral stellte eine der Legenden dar, die man sich unter Milliarden von Menschen an den Flußufern erzählte. Wo man auch hinkam — sie existierte.

Angeblich hatte es ein Mann — oder ein Frühmensch — geschafft, das Gebirge zu bezwingen. Er hatte den Nordpol erreicht — und war dort auf den Großen Gral gestoßen, einen dunklen Turm, eine im Nebel liegende Burg. Und dann war er gestolpert. Oder man hatte ihn gestoßen. Er war kopfüber in die tiefen eiskalten Gewässer gestürzt und gestorben.

Aber der Mensch — oder Frühmensch — war irgendwo am Flußufer wieder erwacht.

Der Tod war in dieser Welt nicht endgültig, auch wenn man die Furcht vor ihm nicht verloren hatte.

Der Mann behielt diese Geschichte nicht für sich. Schneller, als ein Boot segeln konnte, hatte sie sich an den Ufern des großen Flusses ausgebreitet.

Und deswegen hatte sich Richard Francis Burton, der ewige Pilger und Wanderer, aufgemacht, die Mauern des Großen Grals zu erstürmen. Er würde die Geheimnisse der Wiedererweckung und die dieser Welt entschleiern, denn es galt für ihn als sicher, daß die Wesen, die diesen Planeten geformt hatten, auch für die Existenz des Turmes verantwortlich waren.

»Stirb, Hermann Göring! Stirb und laß mich in Frieden!« rief jemand in deutscher Sprache.

Burton öffnete die Augen. Außer den hell leuchtenden Sternen, die bleich durch das offene Fenster der Hütte schienen, war nichts zu sehen.

Die Vision schwand. Er sah die schlafenden Körper von Frigate und Loghu auf den Matten an der gegenüberliegenden Wand und drehte den Kopf, um die unter einer Decke liegende Alice zu betrachten. Ihr helles Gesicht war ihm zugewandt, während das dunkle Haar sich kaum von der Matte, auf der sie ruhte, abhob.

Am vorhergehenden Abend hatte das mit nur einem Mast ausgerüstete Boot, auf dem er und die anderen geflohen waren, eine freundlich wirkende Uferzone angelaufen. Der kleine Staat, der sich Sevieria nannte, beherbergte hauptsächlich Engländer des sechzehnten Jahrhunderts, die einen aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert stammenden Amerikaner zu ihrem Führer gewählt hatten. John Sevier, der Gründer des „verlorenen Staates“ Franklin, aus dem später Tennessee geworden war, hatte sich Burton und seinen Leuten gegenüber als ausgenommen gastfreundlich entpuppt. Er und seine Anhänger waren gegen die Sklaverei und hielten keinen Gast länger, als dieser bleiben wollte.

Nachdem er ihnen erlaubt hatte, die Grale zu füllen, lud Sevier Burton und die anderen zu einer Feier ein, die dem Erweckungstag galt; anschließend war man in ein Gästehaus gebracht worden.

Burton war zwar immer ein Mann des leichten Schlafes gewesen, aber diesmal war es ihm einfach unmöglich, Ruhe zu finden. Noch während die anderen längst schnarchten, hatte er sich herumgewälzt und nachgedacht. Erst als der Traum gekommen war, wurde ihm bewußt, daß er nicht länger an die Decke starrte. Und die Stimme, die seinen Traum zerrissen hatte, machte seinen Geist jetzt vollends klar.

Hermann Göring, dachte Burton. Er hatte ihn getötet — aber er lebte natürlich irgendwo an diesem Fluß weiter. Und der Mann, der irgendwo in einer der Nebenhütten Görings Namen rief — war er ihm irgendwo begegnet?

Oder plagten ihn lediglich die Erinnerungen seines irdischen Daseins?

Burton warf die Decke zurück und erhob sich lautlos und schnell, legte einen mit Magnetverschlüssen versehenen Kilt an, legte den aus Menschenhaut gefertigten Gürtel um, bewaffnete sich und ging hinaus.

Obwohl der Himmel mondlos war, überschütteten die dicht beieinanderstehenden Sterne die Ebene mit einer Helligkeit, die jene der mondbeschienenen Erde übertraf. Weithin war die Umgebung von verschiedenfarbigen Sternen und Wolken kosmischen Gases erleuchtet.