Für Burton bedeutete es nichts anderes, als in den dunklen Turm einzudringen, die Geheimnisse der Ethiker zu entschleiern und sie mit den eigenen Waffen zu schlagen. Er sah nicht ein, daß er sich ihnen gegenüber — nur weil sie ihm ein zweites Leben ermöglicht hatten — bescheiden verhalten sollte. Im Gegenteiclass="underline" Es machte ihn wütend, daß ihn niemand um seine Meinung gefragt hatte. Wenn die Ethiker einen Dank erwarteten, warum erzählten sie dann nicht, aus welchem Grund sie ihm diese erneute Chance gegeben hatten?
Welchen Grund hatten sie, ihre Motive geheimzuhalten? Er würde es herausfinden. Der Funke, den sie in ihm entzündet hatten, würde zu einer gewaltigen Flamme werden, an der sie sich schließlich verbrannten.
Burton verfluchte den Zufall, der ihn so nahe an die Quelle des Flusses herangebracht hatte, nur um ihm zu zeigen, wie kurz die Strecke zu jenem Großen Gral noch war, nur um ihn anschließend sofort wieder in eine Gegend zu transportieren, die Millionen von Kilometern von seinem Ziel entfernt lag. Aber er war einmal dort gewesen und würde es auch ein zweites Mal schaffen. Ein Boot würde ihm auf dieser Reise allerdings wenig nützen.
Möglicherweise kostete sie ihn vierzig Jahre seines Lebens — wenn nicht sogar mehr. Ebenso konnte er damit rechnen, während dieser Zeit mehr als tausendmal in Gefangenschaft oder Sklaverei zu geraten. Und wenn jemand auf die Idee kam, ihn umzubringen, wachte er womöglich irgendwo wieder auf und stellte fest, daß er so weit von seinem Ziel entfernt war, daß er praktisch wieder von vorn beginnen mußte.
Auf der anderen Seite konnte es natürlich auch sein, daß der Tod ihn seinem Ziel näherbrachte. Die Versuchung, das bereits einmal erfolgreich durchgeführte Experiment zu wiederholen, wurde plötzlich wieder groß. Aber auch das Wissen darum, daß der Tod nur ein zeitweiliger war, ließ Burton nicht die notwendige Bereitschaft zu diesem Schritt finden. Auch wenn sein Bewußtsein darüber Klarheit besaß, daß der Tod lediglich eine Fahrkarte auf der langen Strecke zum Ziel darstellte, weigerte sich sein Körper, den Plan zu realisieren. Der Überlebenswille der Zellen erwies sich als stärker. Er triumphierte über den Willen.
Eine Weile redete Burton sich ein, großes Interesse an den Sitten und Gebräuchen jener Primitiven, unter denen er jetzt lebte, zu entwickeln. Aber schließlich siegte dann doch wieder seine Ehrlichkeit, und er sagte sich, daß er sich selbst etwas vorlog, um den Gedanken an den Freitod zu verdrängen. Aber auch dieses Wissen half ihm nicht weiter.
Inzwischen war er zusammen mit Collop und Göring aus der Hütte der Junggesellen ausgezogen und führte das Leben eines normalen Bürgers. Wie die anderen auch hatte Burton sich in einer eigenen Hütte niedergelassen und innerhalb einer Woche eine Frau gefunden, die bereit war, mit ihm zusammenzuleben. Collops Kirche kannte keinen Zölibat. Jedes Mitglied dieser Vereinigung konnte, wenn es wollte, zwar einen Keuschheitseid ablegen, aber man bestritt nicht, daß sowohl Männer als auch Frauen in Körpern erwacht waren, die die gleichen sexuellen Bedürfnisse hatten wir die irdischen Originale. Für sie war klar, daß die Herren der Schöpfung ihnen Sexualorgane gegeben hatten, um sie zu benutzen. Es war allgemein bekannt — auch wenn es gelegentlich Menschen gab, die es abstritten —, daß Geschlechtsorgane auch anderen Funktionen als ausschließlich denen der Reproduktion dienen konnten.
Aus diesem Grund hielt man niemandem vor, wenn er mit einem Partner in den Büschen verschwand.
Ein anderes Resultat der kirchlichen Lehre (die ansonsten dem gesunden Menschenverstand Hohn sprach) besagte, daß jede Form der Liebe gestattet sei, und zwar solange, wie sie nicht erzwungen wurde und Formen der Grausamkeit und Gewalt annahm. Der Mißbrauch von Kindern war verboten, wenngleich dies auch nur ein Problem darstellte, das sich im Laufe der Zeit von selbst erledigen würde. In ein paar Jahren würde es nämlich keine Kinder mehr geben.
Collop weigerte sich, eine Gefährtin zu nehmen, die lediglich dazu diene, ihn von seiner sexuellen Spannung zu befreien. Er wollte eine Frau, die er auch liebte. Burton erklärte ihm daraufhin, daß diese unabdingbare Voraussetzung an sich leicht zu erfüllen sein müsse, da Collop jeden Menschen liebe. Theoretisch gesehen, führte er aus, müsse er sich die erstbeste Gefährtin nehmen, die ihm über den Weg liefe.
»Du wirst es nicht glauben, mein Freund«, erwiderte Collop, »aber genau das habe ich auch getan.«
»Und es ist natürlich reiner Zufall, daß die Frau, die du jetzt hast, hübsch, intelligent und anschmiegsam ist, nicht wahr?« witzelte Burton.
»Obwohl ich wirklich mit allen Kräften danach strebe, ein besserer Mensch als die anderen zu sein«, seufzte Collop, »werde ich manchmal einfach das Gefühl nicht los, noch immer allzu menschlich zu sein.« Er lächelte. »Du hättest mich natürlich lieber als Märtyrer in den Armen einer häßlichen Vettel gesehen.«
»In einem solchen Fall hätte ich dich für einen noch größeren Narren gehalten als jetzt«, erwiderte Burton. »Was mich angeht, ist alles, was ich von einer Frau verlange, Schönheit und Sinnlichkeit. Ob sie Köpfchen hat, ist mir egal. Und ich gebe allemal Blondinen den Vorzug. Sie bringen eine Saite in mir zum Klingen.«
Göring holte eine Walküre in seine Hütte, eine hochgewachsene, vollbusige und breitschultrige Schwedin aus dem achtzehnten Jahrhundert. Burton fragte sich, ob diese Frau Ähnlichkeit mit Görings erster Frau aufwies und ihm als eine Art Ersatz diente. Sie war eine Schwägerin des schwedischen Forschers Graf von Rosen gewesen, und wie Göring später zugab, war die Walküre seiner ersten Frau nicht nur wie aus dem Gesicht geschnitten, sondern hatte auch noch eine ähnliche Stimme wie seine Karin. Allem Anschein nach waren die beiden sehr glücklich miteinander.
Dann, mitten in der Nacht, während der obligatorische Frühmorgenregen auf den Planeten niederprasselte, wurde Burton durch ein lautes Geräusch aus dem Schlaf gerissen.
Zunächst hielt er es für einen Schrei, aber sobald er wacher wurde, stellte er fest, daß es die krachende Explosion eines Donnerschlages gewesen war, dem augenblicklich ein greller Blitz folgte. Burton schloß die Augen wieder.
Er riß sie sofort wieder auf. In einer der umliegenden Hütten hatte ein Frau geschrieen.
Er sprang auf, öffnete die Bambustür und steckte den Kopf hinaus. Der kalte Regen klatschte gegen sein Gesicht. Abgesehen von den westlichen Bergen, über denen ununterbrochen Blitze zuckten, war es dunkel. Ein unerwarteter Einschlag in nächster Nähe betäubte Burton fast. Dennoch gelang es ihm, in dem geisterhaft aufblitzenden Licht vor Görings Hütte zwei weiße Gestalten auszumachen. Der Deutsche hatte die Hände um die Kehle seiner Frau gelegt, die ihrerseits seine Unterarme umklammerte und sich zu befreien versuchte.
Burton eilte hinaus, rutschte auf dem nassen Gras aus und fiel auf die Nase.
Im gleichen Moment, in dem er sich wieder aufrichtete, beleuchtete ein weiterer Blitz die Szenerie und zeigte ihm, daß die Walküre auf dem Boden kniete, den Oberkörper nach hinten gebeugt, während Göring mit verzerrten Gesichtszügen über ihr stand. Collop, nur mit einem Handtuch bekleidet, kam aus seiner Hütte. Burton, der immer noch keinen Ton von sich gegeben hatte, begann wieder zu laufen. Aber Göring war verschwunden. Burton kniete sich neben Karla auf den Boden, lauschte nach ihrem Herzschlag und stellte fest, daß er zu spät gekommen war. Erneut zuckte ein Blitz und beleuchtete das Gesicht der Frau. Ihr Mund klaffte auf, die Augen schienen aus den Höhlen zu springen.
Burton stand auf und schrie: »Göring! Wo sind Sie?«
Irgend etwas knallte von hinten gegen seinen Kopf. Er stürzte zu Boden.
Halb bewußtlos versuchte er, sich mit Hilfe der Hände auf die Knie zu erheben. Ein weiterer Schlag. Burton verlor erneut das Gleichgewicht. Sein Geist war benebelt, aber aus irgendeinem Impuls heraus schaffte er es, sich beiseite zu rollen und schützend die Arme vor den Kopf zu heben. Im Schein des nächsten Blitzes sah er die Gestalt Görings genau über sich. Das Gesicht des Mannes drückte nackten Wahnsinn aus. Er hielt eine schwere Keule in der Hand.