Das Thier mit gutem Gewissen. — Das Gemeine in Alledem, was im Süden Europa's gefällt — sei diess nun die italiänische Oper (zum Beispiel Rossini's und Bellini's) oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in der französischen Verkleidung des Gil Blas am besten zugänglich) — bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet: woher kommt diess? Ist es, dass hier die Scham fehlt und dass alles Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, wie irgend etwas Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in der selben Art Musik oder Roman?» Das Thier hat sein Recht wie der Mensch: so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess Thier noch, trotz Alledem!«— das scheint mir die Moral der Sache und die Eigenheit der südländischen Humanität zu sein. Der schlechte Geschmack hat sein Recht wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er das grosse Bedürfniss, die sichere Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt verständliche Larve und Gebärde ist: der gute, gewählte Geschmack hat dagegen immer etwas Suchendes, Versuchtes, seines Verständnisses nicht völlig Gewisses, — er ist und war niemals volksthümlich! Volksthümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles diess Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes: — und vielleicht war diess Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nöthiger, als den gemeinen. — Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum Beispiel in deutscher Musik, unsäglich. Hier ist Scham dabei, der Künstler ist vor sich selber hinabgestiegen und konnte es nicht einmal verhüten, dabei zu erröthen: wir schämen uns mit ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unseretwegen glaubte hinabsteigen zu müssen.
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Wofür wir dankbar sein sollen. — Erst die Künstler, und namentlich die des Theaters, haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was jeder selber ist, selber erlebt, selber will; erst sie haben uns die Schätzung des Helden, der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklärt ansehen könne, — die Kunst, sich vor sich selber» in Scene zu setzen«. So allein kommen wir über einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt. — Vielleicht giebt es ein Verdienst ähnlicher Art an jener Religion, welche die Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen mit dem Vergrösserungsglase ansehen hiess und aus dem Sünder einen grossen, unsterblichen Verbrecher machte: indem sie ewige Perspectiven um ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Ferne und als etwas Vergangenes, Ganzes sehen.
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Reiz der Unvollkommenheit. — Ich sehe hier einen Dichter, der, wie so mancher Mensch, durch seine Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt, als durch alles Das, was sich unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet, — ja er hat den Vortheil und den Ruhm vielmehr von seinem letzten Unvermögen, als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte: es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber: — aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle» Werke «hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an's Ziel gekommen zu sein.
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Kunst und Natur. — Die Griechen (oder wenigstens die Athener) hörten gerne gut reden: ja sie hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere von den Nicht-Griechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der Bühne, dass sie gut rede, und liessen die Unnatürlichkeit des dramatischen Verses mit Wonne über sich ergehen: — in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg! so stumm und verlegen! Oder wenn sie Worte findet, so verwirrt und unvernünftig und sich selber zur Scham! Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Bühne gewöhnt, wie wir jene andere Unnatur, die singende Leidenschaft ertragen und gerne ertragen, Dank den Italiänern. — Es ist uns ein Bedürfniss geworden, welches wir aus der Wirklichkeit nicht befriedigen können: Menschen in den schwersten Lagen gut und ausführlich reden zu hören: es entzückt uns jetzt, wenn der tragische Held da noch Worte, Gründe, beredte Gebärden und im Ganzen eine helle Geistigkeit findet, wo das Leben sich den Abgründen nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf und gewiss die schöne Sprache verliert. Diese Art Abweichung von der Natur ist vielleicht die angenehmste Mahlzeit für den Stolz des Menschen; ihretwegen überhaupt liebt er die Kunst, als den Ausdruck einer hohen, heldenhaften Unnatürlichkeit und Convention. Man macht mit Recht dem dramatischen Dichter einen Vorwurf daraus, wenn er nicht Alles in Vernunft und Wort verwandelt, sondern immer einen Rest Schweigen in der Hand zurückbehält: — so wie man mit dem Musiker der Oper unzufrieden ist, der für den höchsten Affect nicht eine Melodie, sondern nur ein affectvolles» natürliches «Stammeln und Schreien zu finden weiss. Hier soll eben der Natur widersprochen werden! Hier soll eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize weichen! Die Griechen gehen auf diesem Wege weit, weit — zum Erschrecken weit! Wie sie die Bühne so schmal wie möglich bilden und alle Wirkung durch tiefe Hintergründe sich verbieten, wie sie dem Schauspieler das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich machen und ihn in einen feierlichen, steifen, maskenhaften Popanz verwandeln, so haben sie auch der Leidenschaft selber den tiefen Hintergrund genommen und ihr ein Gesetz der schönen Rede dictirt, ja sie haben überhaupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung furcht- und mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken: sie wollten eben nicht Furcht und Mitleid, — Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren! aber er traf sicherlich nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als er vom letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach! Man sehe sich doch die griechischen Dichter der Tragödie darauf hin an, was am Meisten ihren Fleiss, ihre Erfindsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, — gewiss nicht die Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch Affecte! Der Athener gieng in's Theater, um schöne Reden zu hören! Und um schöne Reden war es dem Sophokles zu thun! — man vergebe mir diese Ketzerei! — Sehr verschieden steht es mit der ernsten Oper: alle ihre Meister lassen es sich angelegen sein, zu verhüten, dass man ihre Personen verstehe. Ein gelegentlich aufgerafftes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu Hülfe kommen: im Ganzen muss die Situation sich selber erklären, — es liegt Nichts an den Reden! — so denken sie Alle und so haben sie Alle mit den Worten ihre Possen getrieben. Vielleicht hat es ihnen nur an Muth gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des Wortes ganz auszudrücken: ein wenig Frechheit mehr bei Rossini und er hätte durchweg la-la-la-la singen lassen — und es wäre Vernunft dabei gewesen! Es soll den Personen der Oper eben nicht» auf's Wort «geglaubt werden, sondern auf den Ton! Das ist der Unterschied, das ist die schöne Unnatürlichkeit, derentwegen man in die Oper geht! Selbst das recitativo secco will nicht eigentlich als Wort und Text angehört sein: diese Art von Halbmusik soll vielmehr dem musicalischen Ohre zunächst eine kleine Ruhe geben (die Ruhe von der Melodie, als dem sublimsten und desshalb auch anstrengendsten Genusse dieser Kunst) —, aber sehr bald etwas Anderes: nämlich eine wachsende Ungeduld, ein wachsendes Widerstreben, eine neue Begierde nach ganzer Musik, nach Melodie. — Wie verhält es sich, von diesem Gesichtspuncte aus gesehen, mit der Kunst Richard Wagner's? Vielleicht anders? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort und Musik seiner Schöpfungen vor der Aufführung auswendig gelernt haben müßte: denn ohne diess — so schien es mir — höre man weder die Worte noch selber die Musik.