303
Zwei Glückliche. — Wahrlich, dieser Mensch, trotz seiner Jugend, versteht sich auf die Improvisation des Lebens und setzt auch den feinsten Beobachter in Erstaunen: — es scheint nämlich, dass er keinen Fehlgriff thut, ob er schon fortwährend das gewagteste Spiel spielt. Man wird an jene improvisirenden Meister der Tonkunst erinnert, denen auch der Zuhörer eine göttliche Unfehlbarkeit der Hand zuschreiben möchte, trotzdem, dass sie sich hier und da vergreifen, wie jeder Sterbliche sich vergreift. Aber sie sind geübt und erfinderisch, und im Augenblicke immer bereit, den zufälligsten Ton, wohin ein Wurf des Fingers, eine Laune sie treibt, sofort in das thematische Gefüge einzuordnen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine Seele einzuhauchen. — Hier ist ein ganz anderer Mensch: dem missräth im Grunde Alles, was er will und plant. Das, woran er gelegentlich sein Herz gehängt hat, brachte ihn schon einige Male an den Abgrund und in die nächste Nähe des Unterganges; und wenn er dem noch entwischte, so doch gewiss nicht nur» mit einem blauen Auge«. Glaubt ihr, dass er darüber unglücklich ist? Er hat längst bei sich beschlossen, eigene Wünsche und Pläne nicht so wichtig zu nehmen.»Gelingt mir Diess nicht, so redet er sich zu, dann gelingt mir vielleicht jenes; und im Ganzen weiss ich nicht, ob ich nicht meinem Misslingen mehr zu Danke verpflichtet bin, als irgend welchem Gelingen. Bin ich dazu gemacht, eigensinnig zu sein und die Hörner des Stieres zu tragen? Das, was mir Werth und Ergebniss des Lebens ausmacht, liegt wo anders; mein Stolz und ebenso mein Elend liegt wo anders. Ich weiss mehr vom Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren: und eben darum habe ich mehr vom Leben, als ihr Alle!»
304
Indem wir thun, lassen wir. — Im Grunde sind mir alle jene Moralen zuwider, welche sagen:»Thue diess nicht! Entsage! Ueberwinde dich!«— ich bin dagegen jenen Moralen gut, welche mich antreiben, Etwas zu thun und wieder zu thun und von früh bis Abend, und Nachts davon zu träumen, und an gar Nichts zu denken als: diess gut zu thun, so gut als es eben mir allein möglich ist! Wer so lebt, von dem fällt fortwährend Eins um das Andere ab, was nicht zu einem solchen Leben gehört: ohne Hass und Widerwillen sieht er heute Diess und morgen Jenes von sich Abschied nehmen, den vergilbten Blättern gleich, welche jedes bewegtere Lüftchen dem Baume entführt: oder er sieht gar nicht, dass es Abschied nimmt, so streng blickt sein Auge nach seinem Ziele und überhaupt vorwärts, nicht seitwärts, rückwärts, abwärts.»Unser Thun soll bestimmen, was wir lassen: indem wir thun, lassen wir«— so gefällt es mir, so lautet mein placitum. Aber ich will nicht mit offenen Augen meine Verarmung anstreben, ich mag alle negativen Tugenden nicht, — Tugenden, deren Wesen das Verneinen und Sichversagen selber ist.
305
Selbstbeherrschung. — Jene Morallehrer, welche zuerst und zuoberst dem Menschen anbefehlen, sich in seine Gewalt zu bekommen, bringen damit eine eigenthümliche Krankheit über ihn: nämlich eine beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und Neigungen und gleichsam eine Art Juckens. Was auch fürderhin ihn stossen, ziehen, anlocken, antreiben mag, von innen oder von aussen her — immer scheint es diesem Reizbaren, als ob jetzt seine Selbstbeherrschung in Gefahr gerathe: er darf sich keinem Instincte, keinem freien Flügelschlage mehr anvertrauen, sondern steht beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaffnet gegen sich selber, scharfen und misstrauischen Auges, der ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht hat. Ja, er kann gross damit sein! Aber wie unausstehlich ist er nun für Andere geworden, wie schwer für sich selber, wie verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele! Ja auch von aller weiteren Belehrung! Denn man muss sich auf Zeiten verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht selber sind, Etwas ablernen will.
306
Stoiker und Epikureer. — Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und selbst die Ereignisse aus, welche zu seiner äusserst reizbaren intellectuellen Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das Uebrige — das heisst das Allermeiste —, weil es eine zu starke und schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken und ohne Ekel zu sein; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet: — er erinnert an jene arabische Secte der Assaua, die man in Algier kennen lernt; und gleich diesen Unempfindlichen hat auch er gerne ein eingeladenes Publicum bei der Schaustellung seiner Unempfindlichkeit, dessen gerade der Epikureer gerne enträth: — der hat ja seinen» Garten!«Für Menschen, mit denen das Schicksal improvisirt, für solche, die in gewaltsamen Zeiten und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben, mag der Stoicismus sehr rathsam sein. Wer aber einigermaassen absieht, dass das Schicksal ihm einen langen Faden zu spinnen erlaubt, thut wohl, sich epikureisch einzurichten; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher gethan! Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüssen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen.
307
Zu Gunsten der Kritik. — Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast: du stösst es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst — du bist immer ein Anderer —, dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen» Wahrheiten«, gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft: du brauchst sie nicht mehr, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an's Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, — es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben und sich bejahen will, Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen! — Diess zu Gunsten der Kritik.
308
Die Geschichte jedes Tages. — Was macht bei dir die Geschichte jedes Tages? Siehe deine Gewohnheiten an, aus denen sie besteht: sind sie das Erzeugniss zahlloser kleiner Feigheiten und Faulheiten oder das deiner Tapferkeit und erfinderischen Vernunft? So verschieden beide Fälle sind, es wäre möglich, dass die Menschen dir das gleiche Lob spendeten und dass du ihnen auch wirklich so wie so den gleichen Nutzen brächtest. Aber Lob und Nutzen und Respectabilität mögen genug für Den sein, der nur ein gutes Gewissen haben will, — nicht aber für dich Nierenprüfer, der du ein Wissen um das Gewissen hast!