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Noch einmal die Herkunft der Gelehrten. — Sich selbst erhalten wollen ist der Ausdruck einer Nothlage, einer Einschränkung des eigentlichen Lebens-Grundtriebes, der auf Machterweiterung hinausgeht und in diesem Willen oft genug die Selbsterhaltung in Frage stellt und opfert. Man nehme es als symptomatisch, wenn einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das Entscheidende sahen, sehen mussten: — es waren eben Menschen in Nothlagen. Dass unsre modernen Naturwissenschaften sich dermaassen mit dem Spinozistischen Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und am gröbsten im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre vom» Kampf um's Dasein«—), das liegt wahrscheinlich an der Herkunft der meisten Naturforscher: sie gehören in dieser Hinsicht zum» Volk«, ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe kannten. Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht Etwas wie englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-Leute-Geruch von Noth und Enge. Aber man sollte, als Naturforscher, aus seinem menschlichen Winkel herauskommen: und in der Natur herrscht nicht die Nothlage, sondern der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in's Unsinnige. Der Kampf um's Dasein ist nur eine Ausnahme, eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und kleine Kampf dreht sich allenthalben um's Uebergewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist.

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Zu Ehren der homines religiosi. — Der Kampf gegen die Kirche ist ganz gewiss unter Anderem — denn er bedeutet Vielerlei — auch der Kampf der gemeineren vergnügteren vertraulicheren oberflächlicheren Naturen gegen die Herrschaft der schwereren tieferen beschaulicheren, das heisst böseren und argwöhnischeren Menschen, welche mit einem langen Verdachte über den Werth des Daseins, auch über den eignen Werth brüteten: — der gemeine Instinkt des Volkes, seine Sinnen-Lustigkeit, sein» gutes Herz «empörte sich gegen sie. Die ganze römische Kirche ruht auf einem südländischen Argwohne über die Natur des Menschen, der vom Norden aus immer falsch verstanden wird: in welchem Argwohne der europäische Süden die Erbschaft des tiefen Orients, des uralten geheimnissreichen Asien und seiner Contemplation gemacht hat. Schon der Protestantismus ist ein Volksaufstand zu Gunsten der Biederen, Treuherzigen, Oberflächlichen (der Norden war immer gutmüthiger und flacher als der Süden); aber erst die französische Revolution hat dem» guten Menschen «das Scepter vollends und feierlich in die Hand gegeben (dem Schaf, dem Esel, der Gans und Allem, was unheilbar flach und Schreihals und reif für das Narrenhaus der» modernen Ideen «ist).

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Zu Ehren der priesterlichen Naturen. — Ich denke, von dem, was das Volk unter Weisheit versteht (und wer ist heute nicht» Volk«? —), von jener klugen kuhmässigen Gemüthsstille, Frömmigkeit und Landpfarrer-Sanftmuth, welche auf der Wiese liegt und dem Leben ernst und wiederkäuend zuschaut, — davon haben gerade die Philosophen sich immer am fernsten gefühlt, wahrscheinlich weil sie dazu nicht» Volk «genug, nicht Landpfarrer genug waren. Auch werden wohl sie gerade am spätesten daran glauben lernen, dass das Volk Etwas von dem verstehn dürfte, was ihm am fernsten liegt, von der grossen Leidenschaft des Erkennenden, der beständig in der Gewitterwolke der höchsten Probleme und der schwersten Verantwortlichkeiten lebt, leben muss (also ganz und gar nicht zuschauend, ausserhalb, gleichgültig, sicher, objektiv…). Das Volk verehrt eine ganz andere Art Mensch, wenn es seinerseits sich ein Ideal des» Weisen «macht, und hat tausendfach Recht dazu, gerade dieser Art Mensch mit den besten Worten und Ehren zu huldigen: das sind die milden, ernst-einfältigen und keuschen Priester-Naturen und was ihnen verwandt ist, — denen gilt das Lob in jener Volks-Ehrfurcht vor der Weisheit. Und wem hätte das Volk auch Grund, dankbarer sich zu erweisen als diesen Männern, die zu ihm gehören und aus ihm kommen, aber wie Geweihte, Ausgelesene, seinem Wohl Geopferte — sie selber glauben sich Gott geopfert —, vor denen es ungestraft sein Herz ausschütten, an die es seine Heimlichkeiten, seine Sorgen und Schlimmeres loswerden kann (- denn der Mensch, der» sich mittheilt«, wird sich selber los; und wer» bekannt «hat, vergisst). Hier gebietet eine grosse Nothdurft: es bedarf nämlich auch für den seelischen Unrath der Abzugsgräben und der reinlichen reinigenden Gewässer drin, es bedarf rascher Ströme der Liebe und starker demüthiger reiner Herzen, die zu einem solchen Dienste der nicht-öffentlichen Gesundheitspflege sich bereit machen und opfern — denn es ist eine Opferung, ein Priester ist und bleibt ein Menschenopfer… Das Volk empfindet solche geopferte stillgewordne ernste Menschen des» Glaubens «als weise, das heisst als Wissend-Gewordene, als» Sichere «im Verhältniss zur eigenen Unsicherheit: wer würde ihm das Wort und diese Ehrfurcht nehmen mögen? — Aber, wie es umgekehrt billig ist, unter Philosophen gilt auch ein Priester immer noch als» Volk «und nicht als Wissender, vor Allem, weil sie selbst nicht an» Wissende «glauben und eben in diesem Glauben und Aberglauben schon» Volk «riechen. Die Bescheidenheit war es, welche in Griechenland das Wort» Philosoph «erfunden hat und den prachtvollen Uebermuth, sich weise zu nennen, den Schauspielern des Geistes überliess, — die Bescheidenheit solcher Ungethüme von Stolz und Selbstherrlichkeit, wie Pythagoras, wie Plato.

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Inwiefern Moral kaum entbehrlich ist. — Der nackte Mensch ist im Allgemeinen ein schändlicher Anblick — ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den Europäerinnen!) Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe sich plötzlich durch die Tücke eines Zauberers enthüllt und ausgekleidet, ich glaube, dass nicht nur der Frohsinn dahin und der stärkste Appetit entmuthigt wäre, — es scheint, wir Europäer können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heisst. Sollte aber die Verkleidung der» moralischen Menschen«, ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die Begriffe Pflicht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung nicht seine ebenso guten Gründe haben? Nicht dass ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit und Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Thier in uns vermummt werden; mein Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade als zahme Thiere ein schändlicher Anblick sind und die Moral-Verkleidung brauchen, — dass der» inwendige Mensch «in Europa eben lange nicht schlimm genug ist, um sich damit» sehen lassen «zu können (um damit schön zu sein —). Der Europäer verkleidet sich in die Moral, weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat,»zahm «zu sein, weil er beinahe eine Missgeburt, etwas Halbes, Schwaches, Linkisches ist…. Nicht die Furchtbarkeit des Raubthiers findet eine moralische Verkleidung nöthig, sondern das Heerdenthier mit seiner tiefen Mittelmässigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst. Moral putzt den Europäer auf — gestehen wir es ein! — in's Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, in's» Göttliche»—