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Vom Mangel der vornehmen Form. — Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zu einander, als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens steht alle militärisch begründete Cultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Cultur: letztere in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Noth: man will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese Noth ausnützt und sich den Arbeiter kauft. Es ist seltsam, dass die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei Weitem nicht so peinlich empfunden wird, als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen, wie es alle Grössen der Industrie sind: in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle Noth speculirenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabricanten und Gross-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höheren Rasse, welche erst die Personen interessant werden lassen; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Socialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur Sclaverei jeder Art, vorausgesetzt, dass der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen geboren legitimirt — durch die vornehme Form! Der gemeinste Mann fühlt, dass die Vornehmheit nicht zu improvisiren ist und dass er in ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren hat, — aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte Fabricanten-Vulgarität mit rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur Zufall und Glück hier den Einen über den Andern erhoben habe: wohlan, so schliesst er bei sich, versuchen wir einmal den Zufall und das Glück! Werfen wir einmal die Würfel! — und der Socialismus beginnt.
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Gegen die Reue. — Der Denker sieht in seinen eigenen Handlungen Versuche und Fragen, irgend worüber Aufschluss zu erhalten: Erfolg und Misserfolg sind ihm zu allererst Antworten. Sich aber darüber, dass Etwas missräth, ärgern oder gar Reue empfinden — das überlässt er Denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist.
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Arbeit und Langeweile. — Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen — darin sind sich in den Ländern der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel; wesshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt, dass sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun giebt es seltenere Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne Lust an der Arbeit arbeiten: jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art, aber auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr, als die Arbeit ohne Lust: ja, sie haben viel Langeweile nöthig, wenn ihnen ihre Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle erfindsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme» Windstille «der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht; er muss sie ertragen, muss ihre Wirkung bei sich abwarten: — das gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein: wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, dass sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind, als diese; selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols.
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Was die Gesetze verrathen. — Man vergreift sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes studirt, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters wären; die Gesetze verrathen nicht Das, was ein Volk ist, sondern Das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte; und die härtesten Strafen treffen Das, was der Sitte des Nachbarvolkes gemäss ist. So giebt es bei den Wahabiten nur zwei Todsünden: einen anderen Gott haben als den Wahabiten-Gott und — rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet als» die schmachvolle Art des Trinkens«).»Und wie steht es mit Mord und Ehebruch?«— fragte erstaunt der Engländer, der diese Dinge erfuhr.»Nun, Gott ist gnädig und barmherzig!«— sagte der alte Häuptling. — So gab es bei den alten Römern die Vorstellung, dass ein Weib sich nur auf zweierlei Art tödtlich versündigen könne: einmal durch Ehebruch, sodann — durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe das Küssen unter Verwandten nur desshalb zur Sitte gemacht, um die Weiber in diesem Puncte unter Controle zu halten; ein Kuss bedeute: riecht sie nach Wein? Man hat wirklich Frauen, die beim Weine ertappt wurden, mit dem Tode gestraft: und gewiss nicht nur, weil die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines alles Nein-Sagen verlernen; die Römer fürchteten vor Allem das orgiastische und dionysische Wesen, von dem die Weiber des europäischen Südens damals, als der Wein noch neu in Europa war, von Zeit zu Zeit heimgesucht wurden, als eine ungeheuerliche Ausländerei, welche den Grund der römischen Empfindung umwarf; es war ihnen wie ein Verrath an Rom, wie die Einverleibung des Auslandes.
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Die geglaubten Motive. — So wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die Menschheit bisher gehandelt hat: vielleicht ist der Glaube an diese oder jene Motive, also Das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres Thuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch Wesentlicheres für den Erkennenden. Das innere Glück und Elend der Menschen ist ihnen nämlich je nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zu Theil geworden, — nicht aber durch Das, was wirklich Motiv war! Alles diess Letztere hat ein Interesse zweiten Ranges.
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Epikur. — Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikur's anders zu empfinden, als irgend Jemand vielleicht, und bei Allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Alterthums zu geniessen: — ich sehe sein Auge auf ein weites weissliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während grosses und kleines Gethier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie diess Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfinden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann: es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.
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Unser Erstaunen. — Es liegt ein tiefes und gründliches Glück darin, dass die Wissenschaft Dinge ermittelt, die Standhalten und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen abgeben: — es könnte ja anders sein! Ja, wir sind so sehr von all der Unsicherheit und Phantasterei unserer Urtheile und von dem ewigen Wandel aller menschlichen Gesetze und Begriffe überzeugt, dass es uns eigentlich ein Erstaunen macht, wie sehr die Ergebnisse der Wissenschaft Stand halten! Früher wusste man Nichts von dieser Wandelbarkeit alles Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den Glauben aufrecht, dass das ganze innere Leben des Menschen mit ewigen Klammern an die eherne Nothwendigkeit geheftet sei: vielleicht empfand man damals eine ähnliche Wollust des Erstaunens, wenn man sich Märchen und Feengeschichten erzählen liess. Das Wunderbare that jenen Menschen so wohl, die der Regel und der Ewigkeit mitunter wohl müde werden mochten. Einmal den Boden verlieren! Schweben! Irren! Toll sein! — das gehörte zum Paradies und zur Schwelgerei früherer Zeiten: während unsere Glückseligkeit der des Schiffbrüchigen gleicht, der an's Land gestiegen ist und mit beiden Füssen sich auf die alte feste Erde stellt — staunend, dass sie nicht schwankt.
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Von der Unterdrückung der Leidenschaften. — Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den» Gemeinen«, den gröberen, bürgerlichen, bäuerlichen Naturen zu Ueberlassendes, — also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde: so erreicht man nichtsdestoweniger eben Das mit, was man nicht wilclass="underline" die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung: — wie diess zum belehrendsten Beispiele der Hof Ludwig's des Vierzehnten und Alles, was von ihm abhängig war, erlebt hat. Das Zeitalter darauf, erzogen in der Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmuthiges, flaches, spielendes Wesen an ihrer Stelle, — ein Zeitalter, das mit der Unfähigkeit behaftet war, unartig zu sein: sodass selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zurückgegeben wurde. Vielleicht giebt unsere Gegenwart das merkwürdigste Gegenstück dazu ab: ich sehe überall, im Leben und auf dem Theater, und nicht am wenigsten in Allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen gröberen Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft: es wird jetzt eine gewisse Convention der Leidenschaftlichkeit verlangt, — nur nicht die Leidenschaft selber! Trotzdem wird man sie damit zuletzt erreichen, und unsere Nachkommen werden eine ächte Wildheit haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen.
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Kenntniss der Noth. — Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch Nichts so sehr von einander geschieden, als durch den verschiedenen Grad von Kenntniss der Noth, den sie haben: Noth der Seele wie des Leibes. In Bezug auf letztere sind wir jetzigen vielleicht allesammt, trotz unserer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher Selbst-Erfahrung Stümper und Phantasten zugleich: im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht — dem längsten aller Zeitalter —, wo der Einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein musste. Damals machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Uebung des Schmerzes, ein ihm nothwendiges Mittel seiner Erhaltung; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und sah das Furchtbarste dieser Art über Andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl, als das der eigenen Sicherheit. Was die Noth der Seele aber betrifft, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt; ob er diese Kenntniss zu heucheln doch noch für nöthig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er überhaupt an grosse Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht, wie bei Nennung grosser körperlicher Erduldungen: wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den Meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergiebt sich nun eine wichtige Folge: man hasst jetzt den Schmerz viel mehr, als frühere Menschen, und redet ihm viel übler nach als je, ja, man findet schon das Vorhandensein des Schmerzes als eines Gedankens kaum erträglich und macht dem gesammten Dasein eine Gewissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal grosser, furchtbarer Nothstände; sondern diese Fragezeichen am Werthe alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befindet und in der Armuth an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon quälende allgemeine Vorstellungen als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte. — Es gäbe schon ein Recept gegen pessimistische Philosophien und die übergrosse Empfindlichkeit, welche mir die eigentliche» Noth der Gegenwart «zu sein scheint: — aber vielleicht klingt diess Recept schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt urtheilt:»Das Dasein ist etwas Böses«. Nun! Das Recept gegen» die Noth «lautet: Noth.