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Heerden-Instinct. — Wo wir eine Moral antreffen, da finden wir eine Abschätzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Heerde: Das, was ihr am ersten frommt — und am zweiten und dritten —, das ist auch der oberste Maassstab für den Werth aller Einzelnen. Mit der Moral wird der Einzelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben. Da die Bedingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden von denen einer anderen Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen; und in Hinsicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der Heerden und Gemeinden, Staaten und Gesellschaften kann man prophezeien, dass es noch sehr abweichende Moralen geben wird. Moralität ist Heerden-Instinct im Einzelnen.

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Heerden-Gewissensbiss. — In den längsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz anderen Gewissensbiss als heut zu Tage. Heute fühlt man sich nur verantwortlich für Das, was man will und thut, und hat in sich selber seinen Stolz: alle unsere Rechtslehrer gehen von diesem Selbst- und Lustgefühle des Einzelnen aus, wie als ob hier von jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit der Menschheit hindurch gab es nichts Fürchterlicheres, als sich einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfinden, weder gehorchen noch herrschen, ein Individuum bedeuten — das war damals keine Lust, sondern eine Strafe; man wurde verurtheilt» zum Individuum«. Gedankenfreiheit galt als das Unbehagen selber. Während wir Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbusse empfinden, empfand man ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche Noth. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maass und Gewicht schätzen — das gieng damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu würde als Wahnsinn empfunden worden sein: denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und jede Furcht verknüpft. Damals hatte der» freie Wille «das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft: und je unfreier man handelte, je mehr der Heerden-Instinct und nicht der persönliche Sinn aus der Handlung sprach, um so moralischer schätzte man sich. Alles, was der Heerde Schaden that, sei es, dass der Einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals dem Einzelnen Gewissensbisse — und seinem Nachbar noch dazu, ja der ganzen Heerde! — Darin haben wir am allermeisten umgelernt.

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Wohlwollen. — Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Function einer stärkeren Zelle verwandelt? Sie muss es. Und ist es böse, wenn die stärkere jene sich assimilirt? Sie muss es ebenfalls; so ist es für sie nothwendig, denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will sich regeneriren. Demnach hat man im Wohlwollen zu unterscheiden: den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb, je nachdem der Stärkere oder der Schwächere Wohlwollen empfindet. Freude und Begehren sind bei dem Stärkeren, der Etwas zu seiner Function umbilden will, beisammen: Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem Schwächeren, der Function werden möchte. — Mitleid ist wesentlich das Erstere, eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwächeren: wobei noch zu bedenken ist, dass» stark «und» schwach «relative Begriffe sind.

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Kein Altruismus! — Ich sehe an vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust, Function sein zu wollen; sie drängen sich dorthin und haben die feinste Witterung für alle jene Stellen, wo gerade sie Function sein können. Dahin gehören jene Frauen, die sich in die Function eines Mannes verwandeln, welche an ihm gerade schwach entwickelt ist, und dergestalt zu seinem Geldbeutel oder zu seiner Politik oder zu seiner Geselligkeit werden. Solche Wesen erhalten sich selber am besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus einfügen; gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärgerlich, gereizt und fressen sich selber auf.

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Gesundheit der Seele. — Die beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios ist):»Tugend ist die Gesundheit der Seele«— müsste wenigstens, um brauchbar zu sein, dahin abgeändert werden:»deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele«. Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu definiren, sind kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, was selbst für deinen Leib Gesundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es unzählige Gesundheiten des Leibes; und je mehr man dem Einzelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben, je mehr man das Dogma von der» Gleichheit der Menschen «verlernt, um so mehr muss auch der Begriff einer Normal-Gesundheit, nebst Normal-Diät, Normal-Verlauf der Erkrankung unsern Medicinern abhanden kommen. Und dann erst dürfte es an der Zeit sein, über Gesundheit und Krankheit der Seele nachzudenken und die eigenthümliche Tugend eines Jeden in deren Gesundheit zu setzen: welche freilich bei dem Einen so aussehen könnte wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch die grosse Frage offen, ob wir der Erkrankung entbehren könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden: kurz, ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei.

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Das Leben kein Argument. Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können — mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, Ursachen und Wirkungen, Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt: ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.

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Die moralische Skepsis im Christenthum. — Auch das Christenthum hat einen grossen Beitrag zur Aufklärung gegeben: es lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine» Tugenden«: es liess für immer jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Alterthum nicht arm war, jene populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel Seneca's und Epiktet's, lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Ueberlegenheit und sind voller geheimer Einblicke und Ueberblicke, es ist uns dabei zu Muthe, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete: wir kennen Das, was Tugend ist, besser! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle religiösen Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, dass wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher das selbe Gefühl der feinen Ueberlegenheit und Einsicht haben: — wir kennen auch die religiösen Gefühle besser! Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus: — retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntniss!

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Die Erkenntniss mehr, als ein Mittel. — Auch ohne diese neue Leidenschaft — ich meine die Leidenschaft der Erkenntniss — würde die Wissenschaft gefördert werden: die Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und gross geworden. Der gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr günstige Vorurtheil, von dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, dass jener unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und dass Wissenschaft eben nicht als Leidenschaft, sondern als Zustand und» Ethos «gilt. Ja, es genügt oft schon amour-plaisir der Erkenntniss (Neugierde), es genügt amour-vanité, Gewöhnung an sie, mit der Hinterabsicht auf Ehre und Brod, es genügt selbst für Viele, dass sie mit einem Ueberschuss von Musse Nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln, ordnen, beobachten, weiter erzählen: ihr» wissenschaftlicher Trieb «ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft gesungen: er bezeichnet sie als den schönsten Schmuck und den grössten Stolz unseres Lebens, als eine edle Beschäftigung in Glück und Unglück;»ohne sie, sagt er endlich, wäre alles menschliche Unternehmen ohne festen Halt, — auch mit ihr ist es ja noch veränderlich und unsicher genug!«Aber dieser leidlich skeptische Papst verschweigt, wie alle anderen kirchlichen Lobredner der Wissenschaft, sein letztes Urtheil über sie. Mag man nun aus seinen Worten heraushören, was für einen solchen Freund der Kunst merkwürdig genug ist, dass er die Wissenschaft über die Kunst stellt; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht von dem redet, was auch er hoch über alle Wissenschaft stellt: von der» geoffenbarten Wahrheit «und von dem» ewigen Heil der Seele«, — was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des Lebens!» Die Wissenschaft ist Etwas von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der Passion«, — diess Urtheil blieb in der Seele Leo's zurück: das eigentlich christliche Urtheil über die Wissenschaft! Im Alterthum war ihre Würde und Anerkennung dadurch verringert, dass selbst unter ihren eifrigsten Jüngern das Streben nach der Tugend voranstand, und dass man der Erkenntniss schon ihr höchstes Lob gegeben zu haben glaubte, wenn man sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel.