»Die Yabree?«
Der Mriswith hielt sein dreiklingiges Messer in die Höhe und schwenkte es leicht hin und her. Sein schlitzartiger Mund weitete sich zu einer Art Grinsen. »Ja, Yabree. Wenn die Yabree singen, ist die Zeit der Königin gekommen.«
»Der Königin?«
»Die Königin braucht dich, Hautbruder. Du mußt ihr helfen.«
Richard spürte, daß Berdine zitterte, als sie sich an ihn drückte. Er entschied, es sei besser, weiterzugehen, bevor sie zu verängstigt war, und begann, die Stufen hinabzusteigen.
Zwei Absätze weiter unten klammert sie sich noch immer an ihn. »Er ist verschwunden«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Richard blickte zurück nach oben und sah, daß sie recht hatte.
Berdine drängte ihn in eine Türnische und schob ihn mit dem Rücken gegen eine Holztür. Mit durchdringendem Blick starrte sie ihn erregt an. »Das war ein Mriswith, Lord Rahl.«
Richard nickte, ein wenig verwirrt von ihrem unregelmäßigen, hektischen Atem.
»Mriswiths töten Menschen, Lord Rahl. Sonst tötet Ihr sie immer.«
Richard deutete mit der Hand auf den Treppenabsatz oben. »Er wollte uns nichts tun. Das habe ich Euch doch erklärt. Er hat uns doch nicht angegriffen, oder? Es war nicht nötig, ihn umzubringen.«
Sie legte besorgt die Stirn in Falten. »Fühlt Ihr Euch auch wohl, Lord Rahl?«
»Es geht mir gut. Kommt jetzt weiter. Möglicherweise hat uns der Mriswith einen guten Hinweis gegeben, wo wir vielleicht finden, was wir suchen.«
Sie stieß ihn abermals gegen die Tür, als er den Versuch unternahm, sich zu bewegen. »Wieso hat er Euch ›Hautbruder‹ genannt?«
»Weiß ich nicht. Wahrscheinlich, weil er Schuppen hat und ich Haut. Ich denke, er hat mich so genannt, damit ich weiß, daß er nichts Böses im Sinn hat. Er wollte helfen.«
»Helfen«, wiederholte sie ungläubig.
»Er hat immerhin nicht versucht, uns aufzuhalten, oder?«
Endlich ließ sie sein Hemd los. Länger dauerte es, bis sie ihre blauen Augen von ihm gelöst hatte.
Unten im Turm führte ein Laufsteg mit einem Eisengitter an der Außenwand entlang. In der Mitte befand sich ein bedrohlich schwarzes Wasser, dessen Oberfläche an verschiedenen Stellen von Felsen durchbrochen wurde. Salamander klebten an den Steinen unterhalb des Laufsteges und ruhten sich, halb unter Wasser, auf den Steinen aus. Insekten schwammen durch das dicke, pechschwarze Wasser und sprangen um gelegentlich aufsteigende Bläschen herum, die beim Zerplatzen Kreise zogen.
Nach der Hälfte des Steges war Richard sicher, gefunden zu haben, was er gesucht hatte: etwas höchst Ungewöhnliches — im Gegensatz zu den Bibliotheken oder selbst den seltsamen Räumen und Korridoren.
Eine breite Plattform vor der Stelle, wo einmal eine Tür gewesen war, lag voller verrußter Steinbrocken, Splitter und Staub. Dicke Holzstücke aus der Tür trieben jetzt auf dem dunklen Wasser hinter dem Eisengeländer. Der Durchgang selbst war weggesprengt worden und jetzt doppelt so groß wie zuvor. Die schroffen Ränder waren verkohlt, und an einigen Stellen war der Stein geschmolzen wie Kerzenwachs. Von dem herausgesprengten Loch aus zogen verschlungene Streifen in alle Richtungen, so als wäre ein Blitz in die Mauer eingeschlagen und hätte sie verbrannt.
»Das ist noch nicht lange her«, stellte Richard fest und fuhr mit dem Finger durch den schwarzen Ruß.
»Wie könnt Ihr das wissen?« fragte Berdine und sah sich um.
»Seht her. Hier. Schimmel und Schmutz wurden weggebrannt, geradezu vom Felsen abgescheuert, und hatten noch keine Zeit, sich wieder auszubreiten. Das hier ist erst vor kurzem passiert — irgendwann innerhalb der letzten zwölf Monate.«
Der Raum im Innern war rund, vielleicht sechzig Fuß im Durchmesser, die Wände mit verschmorten Stellen in zackigen Mustern übersät, so als hätte ein Blitz hier drinnen verrückt gespielt. Eine kreisrunde Steinmauer, einem riesigen Brunnen gleich, nahm die Mitte ein — fast über die Hälfte der Breite des Raumes. Richard beugte sich über die hüfthohe Mauer und hielt die leuchtende Kugel hinein. Die glatten Steinwände des Lochs fielen endlos in die Tiefe ab. Hunderte von Fuß weit konnte er das Gestein sehen, erst dann drang das Licht nicht weiter in die Tiefe vor. Das Loch schien bodenlos zu sein.
Darüber befand sich eine Kuppeldecke, die fast so hoch war wie der Raum breit. Fenster oder weitere Türen gab es nicht. Zur gegenüberliegenden Seite hin konnte Richard einen Tisch und einige Regale erkennen.
Als sie um den Brunnen herumgingen, entdeckte er die Leiche, die neben einem Stuhl auf dem Boden lag. Außer Knochen in ein paar zerfetzten Resten eines Stoffumhanges war nichts mehr übrig. Der größte Teil des Umhanges war vor langer Zeit weggefault, so daß das Skelett nur noch von einem ledernen Gürtel zusammengehalten wurde. Sandalen waren auch noch vorhanden. Als er die Knochen berührte, zerfielen sie wie eingetrocknete Erde.
»Der liegt schon sehr lange hier«, meinte Berdine.
»Da habt Ihr allerdings recht.«
»Seht doch, Lord Rahl.«
Richard stand auf und blickte zum Tisch hinüber, zu der Stelle, auf die sie zeigte. Dort stand ein Tintenfaß, vielleicht schon seit Jahrhunderten ausgetrocknet, daneben ein Federhalter und ein offenes Buch. Richard beugte sich vor und blies eine Staubwolke und Steinsplitter vom Buch herunter.
»Es ist auf Hoch-D’Haran«, sagte er, als er es dicht neben die leuchtende Kugel hielt.
»Laßt mich sehen.« Ihre Augen wanderten von einer Seite zur anderen, während sie die seltsamen Schriftzeichen betrachtete. »Das stimmt.«
»Was steht dort?«
Sie nahm das Buch vorsichtig in beide Hände. »Das hier ist sehr alt. Der Dialekt ist älter als alle, die ich bisher gesehen habe. Darken Rahl hat mir einmal einen alten Dialekt gezeigt, der, wie er sagte, über zweitausend Jahre alt war.« Sie hob den Kopf. »Der hier ist noch älter.«
»Könnt Ihr ihn entziffern?«
»Von dem Buch, das wir beim Betreten der Burg gefunden haben, konnte ich nur einen kleinen Teil verstehen.« Nachdenklich betrachtete sie die letzte beschriebene Seite. »Von diesem hier verstehe ich noch erheblich weniger«, meinte sie und blätterte ein paar Seiten zurück.
Richard machte eine ungeduldige Handbewegung. »Könnt Ihr überhaupt nichts entziffern?«
Sie hörte mit dem Umblättern auf und betrachtete die Schrift. »Ich glaube, hier ist von einem erfolgreichen Ende die Rede, doch dieses Ende bedeutet, daß der Betreffende hier stirbt.« Sie zeigte auf etwas. »Sehr Ihr? Drauka. Ich glaube, das Wort ist dasselbe — ›Tod‹.« Berdine warf einen Blick auf den unbeschriebenen Ledereinband, blätterte dann zurück durch das Buch und überflog dabei die Seiten.
Schließlich sah sie wieder hoch mit ihren blauen Augen. »Ich glaube, es ist ein Tagebuch. Ich glaube, es ist das Tagebuch eines Mannes, der hier gestorben ist.«
Richard spürte, wie ihm eine Gänsehaut die Arme hinaufkroch. »Das ist es, wonach ich gesucht habe, Berdine. Das ist etwas Ungewöhnliches, und kein Buch, das andere gesehen haben, wie die oben in der Bibliothek. Könnt Ihr es übersetzen?«
»Ein wenig vielleicht, aber viel nicht.« Ihr Gesicht zeigte Enttäuschung. »Tut mir leid, Lord Rahl. Ich kenne einfach keine so alten Dialekte. Mit dem Buch, das wir zuerst gesehen haben, hätte ich die gleichen Schwierigkeiten gehabt. Ich könnte nur raten.«
Richard zupfte nachdenklich an seiner Unterlippe. Während er das Skelett betrachtete, fragte er sich, was der Zauberer in diesem Raum gesucht haben mochte und warum er ihn hermetisch versiegelt hatte — und schlimmer noch, wer das Siegel gebrochen hatte.
Richard wandte sich wieder Berdine zu. »Das Buch oben — ich kenne es. Ich kenne die Geschichte. Wenn ich Euch helfen und erklären würde, woran ich mich erinnerte, könntet Ihr die Worte dann entziffern und diese übersetzten Worte dann dazu benutzen, dieses Tagebuch zu übertragen?«