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»Ist das alles, was er dir bedeutet? Pralinen?«

Er kratzte sich die Stirn. »Nein … so habe ich das nicht gemeint. Richard war … ein guter Mensch.«

»Weißt du, warum er dir diese Pralinen gekauft hat?«

»Weil er nett war. Er hat sich um die Menschen gekümmert.«

Verna nickte. »Ja, das hat er. Er hat gehofft, wenn für ihn die Zeit zur Flucht kommt, würdest du ihn wegen der geschenkten Pralinen als Freund betrachten und nicht gegen ihn kämpfen, so daß er dich nicht töten müßte. Er wollte dich nicht als Gegner, der versucht, ihn umzubringen.«

»Ihn umbringen? Prälatin, ich wäre niemals auf —«

»Wenn er nicht so freundlich zu dir gewesen wäre, hättest du dich möglicherweise zuerst dem Palast gegenüber ergeben gezeigt und versucht, ihn aufzuhalten.«

Er sah kurz zu Boden. »Ich habe gesehen, wie er mit dem Schwert umgeht. Ich glaube, er hat mir mehr als nur Pralinen geschenkt.«

»Das hat er allerdings. Wenn die Zeit kommt, Kevin, und du mußt eine Entscheidung treffen — für Richard oder die Imperiale Ordnung —, für wen würdest du dich entscheiden?«

Er verzog gequält das Gesicht. »Ich bin Soldat, Prälatin.« Er stöhnte. »Aber Richard ist ein Freund. Es würde mir schwerfallen, die Waffe gegen einen Freund zu erheben, wenn ich dazu gezwungen wäre. Das ginge allen Palastwachen so. Sie mögen ihn alle.«

Sie drückte seinen Arm. »Sei deinen Freunden ergeben, Kevin, dann wird dir nichts geschehen. Sei Richard ergeben, und es wird dich retten.«

Er nickte. »Danke, Prälatin. Aber ich habe keine Angst, daß ich mich entscheiden muß.«

»Hör zu, Kevin. Der Kaiser ist ein schlechter Mann.« Kevin erwiderte nichts. »Merke dir einfach nur das. Und behalte für dich, was ich dir gesagt habe, ja?«

»Ja, Prälatin.«

Verna betrat forschen Schrittes ihr Vorzimmer. Phoebe erhob sich halb von ihrem Stuhl, als sie sie erblickte. »Guten Abend, Prälatin.«

»Ich muß um Unterweisung beten, Phoebe. Keine Besucher.«

Plötzlich kam ihr eine von Kevins Bemerkungen in den Sinn, die ihr nicht recht schlüssig war. »Die Wachen Bollesdun und Walsh wurden dem Gelände des Propheten überstellt. Überprüfe, weshalb sie dort sind und wer das angeordnet hat, und erstatte mir gleich morgen früh als erstes Bericht darüber.« Verna drohte ihr mit dem Finger. »Gleich als erstes.«

»Verna —« Phoebe sank zurück auf ihren Stuhl und blickte auf ihren Schreibtisch. Schwester Dulcinia wendete ihr bleiches Gesicht ab und widmete ihre Aufmerksamkeit den Berichten. »Verna, es sind ein paar Schwestern hier, die Euch sprechen wollen. Sie warten drinnen.«

»Ich habe niemandem erlaubt, in meinem Büro zu warten!« Phoebe hielt den Kopf gesenkt. »Ich weiß, Prälatin, aber —«

»Ich werde mich darum kümmern. Danke, Phoebe.« Verna hatte einen finsteren, wütenden Blick aufgesetzt, als sie in ihr Büro stürmte. Ohne ihre ausdrückliche Genehmigung durfte sich niemand in ihrem Büro aufhalten. Sie hatte keine Zeit für Unfug. Endlich hatte sie herausgefunden, wie man die Schwestern des Lichts von den Schwestern der Finsternis unterscheiden konnte, und sie wußte, weshalb Kaiser Jagang nach Tanimura in den Palast der Propheten kam. Sie mußte Ann eine Nachricht schicken. Sie mußte wissen, was sie tun sollte.

Im Näherkommen erkannte sie in dem dämmerigen Raum die Gestalten von vier Frauen. »Was hat das zu bedeuten?«

Als sie in den Schein der Kerze trat, erkannte Verna Schwester Leoma.

Und dann wurde die Welt rings um sie nach einem blendenden, schmerzhaften Blitz dunkel.

»Tu, was ich sage, Nathan.«

Er beugte sich zu ihr hinunter, eine ziemliche Entfernung, wenn man ihren Größenunterschied bedachte, und knirschte mit den Zähnen. »Du könntest mir wenigstens Zugang zu meinem Han verschaffen. Wie soll ich dich sonst beschützen?«

Ann verfolgte in der Dunkelheit, wie die Kolonne von fünfhundert Mann Lord Rahl die Straße hinauf folgte. »Ich will nicht, daß du mich beschützt. Das Risiko dürfen wir nicht eingehen. Du weißt, was zu tun ist. Erst wenn er mich gerettet hat, darfst du einschreiten, sonst haben wir keine Chance, einen so gefährlichen Mann zu fassen zu bekommen.«

»Und wenn er dich nicht ›rettet‹?«

Ann wollte diese Möglichkeit nicht wahrhaben. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen würde, selbst wenn die Ereignisse die richtige Gabelung nähmen. »Muß ich einen Propheten jetzt über Prophezeiungen aufklären? Du mußt es geschehen lassen. Danach werde ich die Sperre entfernen. Und jetzt schaff die Pferde für die Nacht in einen Stall. Sorge dafür, daß sie alle gut gefüttert werden.«

Nathan riß ihr die Zügel aus der Hand. »Ganz wie du willst, Frau.« Er drehte sich noch einmal um. »Du solltest darauf hoffen, daß ich diesen Halsring niemals loswerde, denn dann werden wir sehr ausführlich ein Wörtchen miteinander reden müssen. Allerdings wirst du es nicht leicht haben, deinen Standpunkt zu vertreten, denn du wirst dabei gefesselt und geknebelt sein.«

Ann lachte leise in sich hinein. »Nathan, du bist ein guter Kerl. Ich vertraue auf dich. Du mußt mir auch vertrauen.«

Er drohte ihr mit dem Zeigefinger. »Wenn du dich umbringen läßt…«

»Ich weiß, Nathan.«

Er brummte. »Und dann heißt es immer, ich sei verrückt.« Er drehte sich zu ihr um. »Du könntest dir wenigstens etwas zu essen besorgen. Du hast den ganzen Tag noch nichts gegessen. Gleich dort drüben gibt es einen Markt. Versprich mir, daß du wenigstens etwas ißt.«

»Ich habe aber keinen —«

»Versprich es mir!«

Ann seufzte. »Also schön, Nathan. Wenn es dich glücklich macht, werde ich etwas essen. Aber großen Hunger habe ich nicht.« Er hob warnend den Finger. »Ich habe gesagt, ich verspreche es. Und jetzt geh.«

Als er schließlich wütend mit den Pferden davongestapft war, setzte sie ihren Weg zur Burg fort. Die Angst, blind in eine Prophezeiung hineinzulaufen, lag ihr schwer im Magen. Die Vorstellung, die Burg der Zauberer noch einmal zu betreten, behagte ihr nicht, um so weniger, wenn sie an die Prophezeiung dachte, um die es hier ging. Trotzdem mußte sie es tun. Es war die einzige Möglichkeit.

»Einen Honigkuchen, meine Dame? Er kostet nur einen Penny und ist wirklich gut.«

Ann sah zu einem kleinen Mädchen in einem großen Mantel hinunter, das hinter einem wackeligen Tisch stand. Honigkuchen. Nun, sie hatte nicht gesagt, was sie essen würde. Ein Honigkuchen würde den Zweck erfüllen.

Ann lächelte das hübsche Gesicht an. »So ganz alleine hier draußen im Dunkeln?«

Das Mädchen drehte sich um und zeigte hinter sich. »Nein, meine Großmutter ist auch hier.«

Unter einer zerlumpten Decke lag, offenbar schlafend, zusammengerollt eine untersetzte Frau. Ann kramte in einer Tasche und zog eine Münze hervor.

»Ein Silberstück für dich, Liebes. Du siehst aus, als hättest du es nötiger als ich.«

»Oh, vielen Dank, meine Dame.« Sie holte einen Honigkuchen unter dem Tisch hervor. »Bitte nehmt diesen. Es ist einer von den besten, mit besonders viel Honig. Die hebe ich für die nettesten Leute auf, die an meinem Stand kaufen.«

Lächelnd nahm Ann den Honigkuchen entgegen. »Ja, vielen Dank, Liebes.«

Ann ließ sich den süßen Honigkuchen schmecken und betrachtete dabei die Menschen, die auf dem kleinen Markt herumliefen, auf der Suche nach einem, der möglicherweise Ärger bedeuten konnte. Gefährlich sah keiner aus, aber sie wußte: Einer war es. Sie richtete ihr Augenmerk wieder auf die Straße. Komme es, wie es wolle. Sie fragte sich, ob ihre Sorge tatsächlich nachlassen würde, wenn sie wüßte, wie es geschehen würde. Wahrscheinlich nicht.

In der Dunkelheit bemerkte niemand, wie sie den Weg zur Burg einschlug, und endlich war sie allein. Sie wünschte, Nathan wäre bei ihr. In gewisser Hinsicht war es jedoch auch schön, endlich alleine zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Das gab ihr Gelegenheit, über ihr Leben nachzudenken und welche Veränderungen dies mit sich bringen würde, ohne Nathan um sich zu haben. So viele Jahre.