Plötzlich riß die Frau die Arme hoch, als sie von einem mächtigen Schlag von hinten getroffen wurde. Adie mußte alles hineingelegt haben, was sie noch an Kraft besaß. Der unsichtbare magische Stoß von Adie, hart wie ein Hammer, warf die Frau nach vorn. Kahlan bekam ihre Hand zu fassen, während sie verzweifelt versuchte, sie zurückzureißen.
Es war zu spät. In Kahlans Bewußtsein verlangsamte sich alles. Die Magierin schien mitten in der Luft zu stehen, während Kahlan ihre Hand umklammert hielt. Die Zeit gehörte jetzt ganz Kahlan. Sie hatte alle Zeit der Welt.
Die Magierin begann zu keuchen. Sie wollte den Kopf heben. Sie zuckte zurück. Kahlan hatte das ruhige Zentrum ihrer Kraft, ihrer Magie gefunden und war Herr der Lage. Die Frau hatte keine Chance.
Kahlan konnte zusehen, wie die Magie aus ihrem Innern, die Magie des Konfessors, jede einzelne Faser ihres Seins durchdrang und schreiend vorwärtsdrängte.
An diesem zeitlosen Ort ihres Bewußtseins setzte Kahlan ihre Kraft frei.
Donner ohne Hall erschütterte die Nacht.
Die Erschütterung peitschte durch die Luft, selbst die Sterne schienen zu wanken, als hätte eine himmlische Faust auf die Glocke des Nachthimmels geschlagen.
Der Schock erschütterte die Bäume. Eine Welle aus Schnee hob sich und setzte sich kreisförmig nach außen fort.
Der Aufprall der Magie hatte den Mriswith von den Beinen geworfen.
Die Frau hob den Kopf, die Augen aufgerissen, die Muskeln erschlafft.
»Herrin«, hauchte sie, »befehligt mich.«
Soldaten brachen durch die Bäume. Der Mriswith rappelte sich taumelnd auf.
»Beschütze mich!«
Die Magierin sprang auf, streckte eine Hand aus und drehte sich. Die Nacht fing Feuer.
Blitze fetzten im Bogen durch die Bäume. Baumstämme zerbarsten, sobald das gewundene Lichtband sie durchschnitt. Zersplittertes Holz wirbelte durch die Luft, Rauch nach sich ziehend. Männer waren der zerreißenden Gewalt nicht weniger schutzlos ausgeliefert als die Bäume. Kein Schrei entwich ihren Lungen, doch hätte ein solcher im Höllenlärm nie Gehör gefunden.
Der Mriswith sprang auf sie zu. Schuppen, den Federn eines Vogels gleich, der vom Stein aus einer Schleuder getroffen wurde, füllten die Luft.
Brüllendes Feuer erfüllte die Nacht. Die Luft war voller Flammen, Fleisch und Knochen.
Kahlan wischte sich Blut aus den Augen und versuchte etwas zu erkennen, als sie rückwärts durch den Schnee taumelte. Sie mußte entkommen, mußte Adie finden.
Sie stieß gegen etwas. Sie dachte, es müsse ein Baum sein. Eine Faust packte sie bei den Haaren. Sie griff auf ihre Kraft zu, merkte zu spät, daß sie verbraucht war.
Kahlan spuckte Blut. Ihr klangen die Ohren. Und dann war da ein Schmerz. Sie konnte sich nicht hochstemmen. Ihr Kopf fühlte sich an, als wäre ein Baum darauf gestürzt. Über sich hörte sie eine Stimme.
»Lunetta, hör sofort damit auf.«
Kahlan verdrehte den Kopf im Schnee und sah, wie die Magierin, die sie mit ihrer Kraft berührt hatte, immer größer zu werden und auseinanderzufallen schien. Ihre Arme flogen in zwei verschiedene Richtungen. Das war alles, was Kahlan sah. Dann füllte — dort, wo die Frau gestanden hatte — eine Wolke roten Nebels die Luft.
Kahlan sackte in den Schnee. Nein. Sie durfte nicht aufgeben. Mit einer Drehung kam sie auf die Knie und zog ihr Messer. Brogans Stiefel traf sie mitten in den Leib.
Sie blickte hinauf in die Sterne und versuchte, Luft zu holen. Unmöglich. Eine Woge kalter Panik überkam sie, als sie versuchte zu atmen. Die Luft wollte nicht in die Lungen. Ihre Bauchmuskeln zogen sich krampfartig zusammen, aber sie bekam keine Luft.
Brogan kniete neben ihr, riß sie an ihrem Hemd in die Höhe. Schließlich kam ihr Atem als krampfhaftes Husten in halberstickten Zügen zurück.
»Endlich«, sagte er leise. »Endlich gehört der Fang der Fänge mir — das kostbarste Spielzeug des Hüters, die Mutter Konfessor höchstpersönlich. Ihr habt ja keine Vorstellung, wie ich von diesem Tag geträumt habe.« Er schlug ihr mit dem Handrücken gegen das Kinn. »Überhaupt keine Vorstellung.«
Kahlan mühte sich ab, um Luft zu bekommen, während Brogan ihr das Messer aus der Hand wand. Sie kämpfte, um zu verhindern, daß ihr schwarz vor Augen wurde. Sie mußte bei Bewußtsein bleiben, wenn sie denken, wenn sie sich wehren wollte.
»Lunetta!«
»Ja, mein Lord General, hier bin ich.«
Kahlan spürte, wie die Knöpfe an ihrem Hemd absprangen, als er es aufriß. Schwach hob sie einen Arm, um seine Hände daran zu hindern. Er schlug ihren Arm fort. Ihre Arme fühlten sich zu schwer an, um sie zu heben.
»Als erstes müssen wir uns ihrer bemächtigen, bevor ihre Kraft zurücckehrt. Danach haben wir alle Zeit, die wir wollen, sie zu verhören, bevor sie für ihre Verbrechen bezahlen wird.«
Er beugte sich im Mondlicht näher heran, stemmte ein Knie in ihren Unterleib und drückte sie auf den Boden. Sie kämpfte, um wieder Luft in ihre Lungen zu bekommen, dann plötzlich entwich sie mit einem Schrei, als er ihr mit seinen brutalen Fingern die linke Brustwarze verdrehte.
Sie sah, wie das Messer in seiner anderen Hand erschien.
Mit aufgerissenen Augen sah sie das weiße Schimmern vor Brogans Grinsen. Drei Klingen verharrten im Mondschein vor seinem blutleeren Gesicht. Kahlan fuhr zusammen mit Brogan herum, und sie sahen über sich zwei Mriswiths.
»Laßßßß sssie losss«, zischelte der eine, »oder du stirbssst.«
Kahlan legte die Hand auf den durchdringenden Schmerz in ihrer Brust, nachdem er getan hatte, wie ihm befohlen worden war. Der Schmerz war so ungeheuer, daß ihr die Tränen in die Augen schossen. Wenigstens half es, sie vom Blut zu reinigen.
»Was hat das zu bedeuten«, knurrte Brogan. »Sie gehört mir. Der Schöpfer will, daß sie bestraft wird.«
»Du wirst tun, wassss der Traumwandler befiehlt, oder du wirsssst sterben.«
Brogan hob herausfordernd den Kopf. »Das ist sein Wunsch?« Der Mriswith bestätigte es mit einem Zischen. »Das begreife ich nicht.«
»Du bezweifelst es?«
»Nein. Nein, natürlich nicht. Es wird geschehen, was du empfiehlst, Geheiligter.«
Kahlan hatte Angst, sich aufzusetzen, und hoffte, als nächstes würden sie Brogan befehlen, er solle sie gehen lassen. Brogan stand auf und trat zurück.
Ein weiterer Mriswith erschien mit Adie, stieß sie neben Kahlan auf den Boden. Die Berührung der Magierin auf Kahlans Arm verriet ohne Worte, daß es ihr gut ging, wenn sie auch zerschunden und zerkratzt war. Adie legte Kahlan einen Arm um die Schultern und half ihr, sich aufzusetzen.
Kahlan hatte am ganzen Körper Schmerzen. Ihr Kiefer pochte, wo Brogan sie geschlagen hatte, und ihre Stirn brannte. Noch immer lief ihr Blut in die Augen.
Einer der Mriswiths wählte zwei Ringe aus mehreren, die an seinem Handgelenk hingen, aus und hielt sie der Magierin in den zerfetzten Lumpen hin — Lunetta, wie Brogan sie genannt hatte. »Die andere ist tot. Du mußt es an ihrer Stelle tun.«
Lunetta nahm die Ringe mit einem verwirrten Gesicht entgegen. »Tun? Was denn?«
»Benutze deine Gabe, um sie ihnen um den Hals zu legen, damit man sie kontrollieren kann.«
Lunetta zog an einem der Ringe, dieser öffnete sich mit einem Schnappen. Sie schien überrascht, sogar erfreut. Sie hielt ihn vor sich hin und beugte sich über Adie.
»Bitte, Schwester«, sagte Adie leise in ihrer Landessprache, »ich bin aus deiner Heimat. Hilf uns.«
Lunetta zögerte, hob den Kopf und blickte Adie in die Augen.
»Lunetta!« Brogan trat ihr in den Leib. »Beeil dich. Tu, was der Schöpfer wünscht.«
Lunetta ließ den Metallring um Adies Hals zuschnappen, dann watschelte sie hinüber zu Kahlan und wiederholte das Ganze. Kahlan blickte fassungslos in das kindliche Lächeln, mit dem Lunetta sie ansah.
Als Lunetta sich aufgerichtet hatte, untersuchte Kahlan den Halsring. Im Schein des Mondes hatte sie geglaubt, ihn wiederzuerkennen. Als sie jedoch das glatte Metall befühlte und die Naht nicht mehr ertasten konnte, war sie sicher. Es war ein Rada’Han, so wie ihn die Schwestern des Lichts Richard um den Hals gelegt hatten. Sie wußte, daß die Magierinnen Richard damit kontrolliert hatten. Diese Leute hier hatten offenbar dasselbe im Sinn: Sie wollten ihre Kraft unter Kontrolle halten. Plötzlich überkam Kahlan die Befürchtung, ihre Kraft könnte in einigen Stunden nicht wiederkehren.