Als sie die Kutsche erreichten, stand dort Ahern, dem man das Schwert eines Mriswiths vor die Brust hielt. Er hatte Kahlan, Adie und Orsk gesagt, sie sollten in einer Kurve aus der Kutsche springen, er wolle ihre Verfolger fortlocken. Ein gewagter, mutiger Schachzug, der jedoch gescheitert war.
Plötzlich war Kahlan erleichtert, daß sie die anderen aufgefordert hatte, nach Ebinissia zu gehen. Kahlan hatte Jebra gesagt, sie solle sich um Cyrilla kümmern, und den übrigen Männern aufgetragen, wie geplant vorzugehen, um Ebinissia aus der Asche wiederauferstehen zu lassen. Ihre Schwester war zu Hause. Wenn Kahlan den Tod fand, hatte Galea noch immer eine Königin.
Hätte sie einige dieser tapferen jungen Männer mitgenommen, diese Mriswiths, die Alptraumgeschöpfe des Windes, hätten sie alle ausgeweidet, wie sie es mit Orsk gemacht hatten.
Der Kummer über Orsk versetzte ihr einen Stich, dann stieß eine Klaue sie in die Kutsche. Adie wurde gleich hinter ihr hineingeschoben. Kahlan bekam eine kurze Unterredung mit, dann kletterte Lunetta in die Kutsche und nahm gegenüber von Kahlan und Adie Platz. Ein Mriswith stieg ein, setzte sich neben Lunetta und musterte sie aus seinen kleinen, runden Augen. Kahlan raffte ihr Hemd zusammen und versuchte, sich das Blut aus den Augen zu wischen.
Sie hörte, wie draußen noch gesprochen wurde. Es ging darum, die Kufen an der Kutsche gegen Räder auszutauschen. Durchs Fenster sah sie, wie Ahern, hinter vorgehaltenem Schwert, auf den Fahrerbock hinaufkletterte. Der Mann im roten Cape folgte ihm nach oben, dann ein weiterer Mriswith.
Kahlan spürte, wie ihre Beine zitterten. Wo brachte man sie hin? Dabei war sie Richard so nahe. Sie biß die Zähne zusammen und unterdrückte ein Wimmern. Es war ungerecht. Sie fühlte, wie ihr eine Träne die Wange hinunterlief.
Adies Hand glitt auf ihr Bein, und an dem leichten Druck an ihrem Schenkel erkannte sie, daß diese Berührung als Trost gemeint war.
Der Mriswith beugte sich zu ihnen vor, während sein Schlitz von einem Mund sich zu einem bitteren Grinsen zu weiten schien. Er hielt das dreiklingige Messer in die Höhe und schwenkte es ein paarmal vor ihren Augen hin und her.
»Versssucht zu entkommen, und ich schlitzzzze euch die Sohlen eurer Füßßße auf.« Er hob herausfordernd seinen glatten Schädel. »Verstanden?«
Kahlan und Adie nickten.
»Sprecht«, fügte er hinzu, »und ich schlitzzze euch die Zungen auf.«
Sie nickten abermals.
Er wandte sich an Lunetta. »Versiegele ihre Kraft mit deiner Gabe über den Halsring. So wie ich es dir zeige.« Er legte Lunetta eine Kralle auf die Stirn. »Verstanden?«
Lunetta lächelte, sie hatte begriffen. »Ja. Verstehe.«
Kahlan hörte Adie stöhnen, gleichzeitig spürte sie, wie sich etwas in ihrer Brust zusammenzog. Es war die Stelle, an der sie stets ihre Kraft fühlte. Bestürzt fragte sie sich, ob sie sie jemals wieder fühlen würde. Sie erinnerte sich an die hoffnungslose Leere, als der keltonische Zauberer seine Magie dazu benutzt hatte, ihr die Verbindung zu ihrer Kraft zu rauben. Sie wußte, was sie erwartete.
»Sie blutet«, meinte der Mriswith zu Lunetta. »Du mußt sie heilen. Hautbruder wird nicht erfreut sein, wenn sie verletzt ist.«
Sie hörte die Peitsche knallen und einen Pfiff von Ahern. Die Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung. Lunetta beugte sich vor und heilte ihre Wunde.
Gütige Seelen, wohin brachte man sie nur?
40
Ann entfuhr ein schauderhafter Schrei, und die Tränen brannten ihr in den Augen. Ihren Entschluß, nicht zu schreien, hatte sie längst aufgegeben. Wer außer dem Schöpfer würde es hören, wen würde es kümmern?
Valdora zog das blutverschmierte Messer zurück. »Hat es weh getan?« Als sie grinste, wurden wieder ihre Zahnlücken sichtbar, und ein stillvergnügtes Lachen kämpfte sich den Weg nach draußen frei. »Wie gefällt es Euch, wenn ein anderer entscheidet, was mit Euch geschieht? Genau das habt Ihr getan. Ihr habt entschieden, wie ich sterben soll. Ihr habt mir das Leben versagt. Ein Leben, das ich hätte im Palast führen können. Ich wäre noch immer jung. Ihr dagegen habt beschlossen, mich sterben zu lassen.«
Ann zuckte zusammen, als die Messerspitze ihr in die Seite stach. »Ich habe Euch etwas gefragt, Prälatin. Wie gefällt Euch das?«
»Vermutlich nicht besser als dir.«
Das Grinsen kehrte zurück. »Guuuut. Ihr sollt die Schmerzen kennenlernen, die ich all die Jahre erduldet habe.«
»Ich habe dir ein Leben gelassen, wie jeder andere es hat. Ein Leben, das du gestalten konntest, wie du wolltest. Man hat dir gelassen, was dir der Schöpfer gegeben hatte — genau wie jedem anderen, der auf diese Welt kommt. Ich hätte dich hinrichten lassen können.«
»Weil ich jemanden in meinen Bann geschlagen habe! Ich bin eine Magierin! Das ist es, was der Schöpfer mir mitgegeben hat, und ich habe Gebrauch davon gemacht!«
Ann wußte, diese Auseinandersetzung war sinnlos, aber sie war ihr immer noch lieber, als daß Valdora wortlos ihre Arbeit mit dem Messer wieder aufnahm.
»Du hast die Mitgift des Schöpfers dazu benutzt, anderen etwas zu nehmen, das sie nicht freiwillig hergegeben hätten. Du hast ihre Liebe geraubt, ihr Herz, ihr Leben. Dazu hattest du kein Recht. Du hast von der Hingabe genascht wie von Süßigkeiten auf einem Jahrmarkt. Du hast die Menschen mit Magie an dich gebunden, um sie dann wie abgelegte Kleider fortzuwerfen und dir einen anderen zu angeln.«
Das Messer piekste sie erneut. »Und Ihr habt mich verbannt.«
»Wie viele Menschenleben hast du zerstört? Man hat dir gut zugeredet, man hat dich gewarnt, man hat dich bestraft. Trotzdem hast du immer weitergemacht. Erst danach hat man dich aus dem Palast der Propheten gewiesen.«
In Anns Schultern pochte ein dumpfer Schmerz. Sie lag nackt ausgestreckt auf einem Holztisch, die Handgelenke am einen Ende über ihrem Kopf magisch festgezurrt, ihre Füße am anderen. Der Bann schnitt schlimmer ein als ein festes Hanfseil. Sie war so hilflos wie ein zum Ausbluten aufgehängtes Schwein.
Valdora hatte einen Bann benutzt — noch etwas, das sie wer weiß wo gelernt hatte —, um Anns Han zu sperren. Sie fühlte, daß es noch da war, wie ein warmes Feuer an einem Winterabend, gleich hinter einem Fenster, eine einladende, vielversprechende Wärme, und dennoch außer Reichweite.
Ann starrte hinauf zum Fenster gleich unterhalb der Decke des kleinen Raumes aus steinernen Mauern. Bald würde es dämmern. Wieso war er nicht gekommen? Er hätte längst kommen müssen, um sie zu retten, und anschließend hätte sie ihn irgendwie einfangen sollen. Doch er hatte sich nicht blicken lassen.
Noch war es nicht taghell. Er konnte immer noch erscheinen. Gütiger Schöpfer, laß ihn nur bald kommen.
Es sei denn, dies war der falsche Tag. Panik erfüllte sie. Was, wenn sie sich verrechnet hatten? Nein. Nathan und sie waren die Tabellen durchgegangen. Heute war der richtige Tag. Außerdem waren es eher die Ereignisse als der Tag selbst, die die Prophezeiung erfüllten. Daß man sie gefangengenommen hatte, besagte, daß dies der richtige Tag war. Hätte man sie eine Woche vorher gefangengenommen, dann wäre eben das der richtige Tag gewesen. Der heutige Tag lag im Bereich der Möglichkeiten. Die Prophezeiung war erfüllt. Aber wo blieb er?
Ann merkte, daß Valdora aus ihrem Blickfeld verschwunden war. Neben ihr stand sie nicht. Sie hätte weitersprechen sollen. Sie hätte…
Plötzlich spürte sie einen scharfen, brennenden Schmerz, als das Messer ihre Fußsohle der Länge nach einschnitt. Sie riß mit dem ganzen Körper an den Fesseln. Wieder trat ihr der Schweiß auf die Stirn und rann über ihre Kopfhaut. Dann wiederholte sich der Schmerz, ein weiterer Schnitt, begleitet von einem weiteren ohnmächtigen Schrei.