Ihre Schreie hallten von den steinernen Mauern wider, als Valdora ihr einen Hautstreifen von der Fußsohle riß.
Ann zitterte unkontrollierbar. Ihr Kopf fiel zur Seite. Das kleine Mädchen, Holly, blickte sie an. Ann fühlte, wie ihr die Tränen über den Nasenrücken und in das andere Auge liefen, bis sie schließlich vom Gesicht hinuntertropften.
Zitternd starrte sie Holly an und wunderte sich, welch grausame Dinge Valdora einem so unschuldigen Kind beibrachte. Sie würde das Herz dieses kleinen Geschöpfes noch in Stein verwandeln.
Valdora hielt ein kleines, weißes Hautröllchen in die Höhe. »Schau Holly, wie sauber sie abgeht, wenn du es genau machst, wie ich sage. Möchtest du es selbst mal probieren, Liebes?«
»Großmutter«, sagte Holly, »muß das sein? Sie hat uns doch nichts getan. Sie ist nicht wie die anderen. Sie hat nie versucht, uns weh zu tun.«
Valdora gestikulierte mit dem Messer, um ihre Worte zu unterstreichen. »Doch, das hat sie, Liebes. Sie hat mir weh getan. Sie hat mir meine Jugend gestohlen.«
Holly warf einen Blick auf Ann, die noch immer vor Schmerzen zitterte. Für jemanden, der so jung war, blieb das kleine Mädchen seltsam ruhig. Sie hätte eine hervorragende Novizin abgegeben, und eines Tages eine großartige Schwester. »Sie hat mir eine Silbermünze geschenkt. Sie wollte uns nicht weh tun. Das macht keinen Spaß. Ich will das nicht tun.«
Valdora lachte stillvergnügt in sich hinein. »Nun, wir werden es trotzdem tun.« Sie fuchtelte mit dem Messer. »Hör auf deine Großmutter. Sie hat es verdient.«
Holly musterte die alte Frau kühl. »Nur weil du älter bist als ich, hast du deswegen noch lange nicht recht. Ich sehe mir das nicht länger an. Ich gehe nach draußen.«
Valdora zuckte mit den Achseln. »Wenn du willst. Das ist eine Sache zwischen der Prälatin und mir. Wenn du nichts lernen willst, dann geh nach draußen und spiele.«
Holly verließ entschlossen das Zimmer. Ann hätte sie für ihren Mut küssen können.
Valdoras Gesicht kam näher. »Nur Ihr und ich, Prälatin.« Ihre Kiefermuskeln spannten sich. »Sollen — wir — jetzt — endlich…«, zur Betonung jedes Wortes stach sie Ann das Messer in die Seite, »… anfangen?« Sie neigte den Kopf, um Ann besser in die Augen blicken zu können. »Es ist bald Zeit zu sterben, Prälatin. Ich glaube, ich würde gerne sehen, wie Ihr Euch zu Tode schreit. Sollen wir es mal versuchen?«
»Da drüben!« Zedd versuchte, trotz seiner eingeschränkten Bewegungsfreiheit so gut es ging in die entsprechende Richtung zu zeigen. »In der Burg brennt ein Licht.«
Obwohl das Morgengrauen bereits eingesetzt hatte und der Himmel heller wurde, war es immer noch so dämmrig, daß man das gelbe Leuchten erkennen konnte, das aus mehreren Fenstern drang. Gratch bemerkte ebenfalls, was Zedd gesehen hatte, und schwenke ab in Richtung Burg.
»Verdammt«, murmelte er, »wenn dieser Bursche schon in der Burg ist, werde ich…«
Gratch knurrte, als er Zedds offenkundige Anspielung auf Richard hörte. An die Brust des Gar gepreßt, konnte Zedd das Knurren eher an seinem Rücken fühlen als hören. Er warf einen Blick auf den Erdboden tief unten.
»Ich werde ihn retten müssen, mehr wollte ich damit nicht sagen, Gratch. Wenn Richard in Schwierigkeiten steckt, werde ich dort runtergehen und ihn retten müssen.«
Gratch gab ein zufriedenes Gurgeln von sich.
Hoffentlich steckte Richard nicht in Schwierigkeiten. Die Anstrengung, den Bann so lange aufrechtzuerhalten, um sich so leicht zu machen, damit Gratch ihn eine ganze Woche tragen konnte, hatte Zedd fast seine gesamte Kraft gekostet. Er glaubte kaum, daß er noch stehen, viel weniger noch jemanden retten konnte. Nach dieser Geschichte würde er sich tagelang erholen müssen.
Zedd streichelte die gewaltigen, pelzigen Arme um seinen Körper. »Ich liebe Richard auch, Gratch. Wir werden ihm helfen. Wir beide werden ihn beschützen.« Zedd riß die Augen auf. »Gratch! Paß auf, wo du hinfliegst! Langsamer!«
Zedd hielt sich die Arme vors Gesicht, als Gratch auf die Brustwehr zustürzte. Zwischen seinen Armen hindurchblinzelnd, konnte er sehen, wie die Mauer mit beängstigender Geschwindigkeit näher raste. Er keuchte, als Gratch fester zupackte und bei dem Versuch, ihren senkrechten Sturz zu bremsen, wild mit den Flügeln schlug.
Zedd merkte, daß ihm der Bann zu entgleiten drohte. Er war zu erschöpft, ihn länger festzuhalten, und wurde zu schwer für Gratch. Verzweifelt zog er den Bann zurück — wie man ein Ei auffängt, das vom Tisch herunterrollt.
Er bekam den Bann gerade noch rechtzeitig zu fassen, bevor er erlosch.
Schließlich bremste sie Gratchs Flügelschlag, und er zog hoch. Mit einem eleganten Flattern setzte der Gar sie auf der Brustwehr auf. Zedd fühlte, wie sich die pelzigen Arme von seinen schweißdurchtränkten Kleidern lösten.
»Tut mir leid, Gratch. Die Magie wäre mir fast entglitten. Es wäre meine Schuld gewesen, wenn uns beiden etwas zugestoßen wäre.«
Gratch bestätigte das mit einem gedankenverlorenen Knurren. Seine leuchtend grünen Augen bohrten sich suchend in die Dunkelheit. Überall ragten Mauern in die Höhe, und es gab Hunderte von Orten, an denen man sich verstecken konnte. Gratch schien sie alle abzusuchen.
Ein leises Knurren löste sich aus der Kehle des Gar. Das grüne Leuchten wurde intensiver. Zedd blickte suchend in die Dunkelheit, konnte aber nichts erkennen. Gratch hingegen schon.
Zedd zuckte zusammen, als der Gar sich mit einem plötzlichen Röhren in das Dunkel stürzte.
Wuchtige Krallen fetzten durch die nächtliche Luft. Reißzähne schnappten ins Leere.
Allmählich erkannte Zedd Schatten, die aus dem Nichts zu kommen schienen. Capes blähten sich, und Messer blinkten, als die Wesen den Gar umtanzten und -wirbelten.
Mriswiths.
Die Wesen stießen klickende Zischlaute aus, als sie auf das große, pelzige Tier losgingen. Gratch bekam sie mit den Krallen zu fassen, riß ihre schuppige Haut auseinander, verspritzte ihr Blut und ihre Eingeweide. Ihr Todesgeheul ließ es Zedd eiskalt den Rücken hinunterlaufen.
Zedd spürte die Bewegung in der Luft, als einer an ihm vorbeisegelte. Er hatte es auf den Gar abgesehen. Der Zauberer streckte die Hand aus und warf eine Kugel aus flüssigem Feuer, die den Mriswith traf, sein Cape in Brand setzte und ihn dann ganz in Flammen hüllte.
Plötzlich wimmelte es auf der Brustwehr von diesen Wesen. Zedd, der tief graben mußte, um noch Kraft aufzubieten, riß eine Linie aus verdichteter Luft zurück und warf damit mehrere von ihnen über den Rand. Gratch schleuderte einen der Angreifer mit solcher Brutalität gegen die Mauer, daß er beim Aufprall zerplatzte.
Zedd war auf die regelrechte Schlacht, die plötzlich zu allen Seiten ausgebrochen war, nicht vorbereitet. Er befand sich in einem derart lähmenden Erschöpfungszustand, daß seine panische Suche nach Ideen nichts Einfallsreicheres zutage förderte als einen simplen Zauber aus Feuer und Luft.
Plötzlich ging ein Mriswith mit seiner Klinge auf Zedd los. Der Zauberer schleuderte eine Linie aus Luft, scharf wie eine Axt. Sie spaltete den Schädel des Mriswith. Er benutzte ein Netz, um mehrere von Gratch fortzuziehen, und warf sie über den Mauerrand. Hier auf der äußeren Brustwehr bedeutete dies ein Sturz von mehreren tausend Fuß — senkrecht in die Tiefe.
Die Mriswiths achteten größtenteils gar nicht auf Zedd, so versessen waren sie darauf, den Gar zu überwältigen. Wieso wollten sie den Gar unbedingt töten? So wie Gratch sie abfertigte, sah es so aus, als hegten sie einen urtümlichen Haß auf das Flügeltier.
Plötzlich öffnete sich eine Tür, und ein Lichtkeil bohrte sich in die vormorgendliche Dunkelheit. Eine kleine Gestalt zeichnete sich als Silhouette im Licht ab. Im Schein des Lichts konnte Zedd erkennen, wie sämtliche Mriswiths auf den Gar losgingen. Er stürzte los und schleuderte eine Faustvoll Feuer los, die drei der schuppigen Kreaturen einhüllte.
Ein Mriswith wirbelte vorbei, stieß krachend gegen Zedds Schulter und holte ihn von den Beinen. Er sah, wie die Mriswiths über den Gar herfielen, ihn rücklings gegen die mit Zinnen besetzte Mauer prügelten.