Zedd sah noch, wie sie alle zusammen in einer einzigen, kochenden Masse über die Mauerkante gingen und in die Tiefe stürzten. Dann schlug er mit dem Kopf auf einen Stein.
Kreischend öffnete sich die Tür. Als Valdora sich von ihrem Werk erhob, versuchte Ann keuchend wieder zu Atem zu kommen und gleichzeitig gegen die Dunkelheit anzukämpfen, die ihren Verstand einzuhüllen drohte. Sie hielt es nicht mehr länger aus. Sie war am Ende. Sie konnte nicht mehr schreien. Gütiger Schöpfer, sie hielt einfach nicht mehr länger durch. Wieso war er nicht gekommen, um sie zu retten?
»Großmutter.« Vor Anstrengung ächzend, mühte Holly sich ab, etwas Zentimeter für Zentimeter in den Raum zu zerren. »Großmutter. Draußen ist etwas Seltsames passiert.«
Valdora drehte sich zu dem Mädchen um. Unter allergrößter Mühe hob Holly schnaufend einen dürren alten Mann an seinem kastanienbraunen Gewand hoch und lehnte ihn an die Wand. Blut lief ihm seitlich übers Gesicht und verklebte sein gewelltes, weißes Haar, das wirr von seinem Kopf abstand.
»Er ist ein Zauberer, Großmutter. Er ist halbtot. Ich habe gesehen, wie er mit einem Gar gekämpft hat und mit einigen anderen Kreaturen, die ganz mit Schuppen bedeckt waren.«
»Wie kommst du darauf, daß er ein Zauberer ist?«
Holly richtete sich auf und stand nach Luft japsend über dem am Boden liegenden Mann. »Er hat seine Gabe benutzt. Er hat mit Feuerbällen um sich geworfen.«
Valdora runzelte die Stirn. »Ach, wirklich? Ein Zauberer. Wie interessant.« Sie kratzte sich an der Nase. »Was ist mit den Kreaturen geschehen, und mit dem Gar?«
Holly machte große, kreisende Bewegungen mit den Armen und beschrieb den Kampf. »Und dann haben sie sich alle auf den Gar geworfen und sind zusammen über die Mauer gestürzt. Ich bin zum Rand gelaufen, um nachzuschauen, konnte sie aber nicht mehr sehen. Sie sind alle den Berg hinuntergefallen.«
Anns Kopf sank mit einem dumpfen Schlag zurück auf den Tisch. Gütiger Schöpfer, es war der Zauberer, der sie retten sollte.
Es war alles umsonst. Sie würde sterben. Wie hatte sie so verblendet sein können, zu glauben, ein derart riskanter Plan würde tatsächlich gelingen?
Nathan. Sie fragte sich, ob er jemals ihre Leiche finden und so erfahren würde, was geschehen war. Oder ob es ihm überhaupt etwas ausmachen würde, daß seine Wächterin tot war. Sie war eine törichte, törichte alte Frau, die sich selbst für zu schlau gehalten hatte. Einmal zu oft hatte sie sich an einer Prophezeiung zu schaffen gemacht und sich dabei ins eigene Fleisch geschnitten. Nathan hatte recht. Sie hätte auf ihn hören sollen.
Ann zuckte zusammen, als sie merkte, daß Valdora sich mit einem boshaften Grinsen über sie beugte. Sie schob Ann die Messerspitze unter das Kinn.
»Nun, meine liebe Prälatin, es scheint, als müßten wir uns eines Zauberers entledigen.« Sie fuhr Ann mit der Messerspitze über den Hals. Ann spürte, wie sie an der Haut zerrte, wie sie in ihrer langsamen Bewegung schnitt und kratzte.
»Bitte, Valdora, sag Holly, daß sie den Raum verlassen soll. Du solltest nicht zulassen, daß deine Enkelin mit ansehen muß, wie du jemanden tötest.«
Valdora drehte sich um. »Du möchtest gerne zuschauen, nicht wahr, Liebes?«
Holly schluckte. »Nein, Großmutter. Sie hat uns nie weh tun wollen.«
»Ich hab dir doch schon gesagt, mir hat sie weh getan.«
Holly zeigte auf den Zauberer. »Ich habe ihn hergebracht, damit du ihm helfen kannst.«
»Oh, nein. Kommt nicht in Frage. Er muß ebenfalls sterben.«
»Und womit hat er dir weh getan?«
Valdora zuckte mit den Achseln. »Wenn du nicht zuschauen willst, dann geh. Mir macht das nichts aus.«
Holly machte kehrt, hielt dann einen Augenblick inne, um den Mann anzusehen. Sie streckte die Hand aus und berührte ihn an der Schulter, als wollte sie ihn trösten, dann rannte sie hinaus.
Valdora wandte sich wieder um. Sie legte Ann das Messer an die Wange, unter das eine Auge. »Soll ich Euch zuerst die Augen ausstechen?«
Ann kniff die Augen zu. Sie konnte es nicht länger aushalten.
»Nein!« Valdora stieß ihr die Spitze unters Kinn. »Schließt die Augen nicht! Ihr werdet zusehen! Wenn Ihr sie nicht aufmacht, werde ich sie Euch erst recht ausstechen!«
Ann öffnete die Augen. Sie biß sich auf die Unterlippe und verfolgte, wie Valdora ihr die Spitze auf die Brust legte und den Griff senkrecht anhob.
»Endlich«, sagte Valdora leise. »Rache.«
Sie hob das Messer an. Mitten in der Luft hielt es inne. Sie holte tief Luft.
Ein Zucken ging durch Valdoras Körper, als die Klinge eines Schwertes aus der Mitte ihrer Brust hervorbrach.
Sie riß die Augen auf und stieß ein gurgelndes Kreischen aus. Das Messer fiel zu Boden.
Nathan stemmte Valdora einen Fuß in den Rücken und zog das Schwert aus der Frau. Sie schlug hart auf den Steinboden.
Ann schluchzte voller Erleichterung. Tränen strömten ihr aus den Augen, als die Banne brachen, die sie an Handgelenken und Füßen fesselten.
Nathan blickte verbittert auf sie herab, wie sie auf dem Tisch lag. »Törichtes Weib«, sagte er leise, »was hast du dir antun lassen.«
Er bückte sich, nahm sie in die Arme und weinte wie ein Kind. Seine Arme fühlten sich so süß an wie die des Schöpfers, als er sie an seine Brust drückte.
Als ihr Weinen nachließ, löste er sich von ihr, und sie sah, daß seine Kleidung blutdurchtränkt war. Von ihrem Blut.
»Nimm die Sperre fort, und dann leg dich wieder hin und laß mich sehen, ob ich diese schlimmen Wunden vielleicht heilen kann.«
Ann schob seine Hand fort. »Nein. Zuerst muß ich tun, weshalb ich hergekommen bin.« Sie zeigte auf den Mann. »Das ist er. Das ist der Zauberer, dessentwegen wir gekommen sind.«
»Hat das nicht Zeit?«
Sie wischte sich das Blut und die Tränen aus den Augen. »Ich habe diese Prophezeiung bis hierhin durchgestanden, Nathan. Laß sie mich zu Ende führen. Bitte.«
Mit einem angewiderten Seufzer griff er in einen Beutel neben der Scheide an seinem Gürtel und zog einen Rada’Han heraus. Er reichte ihn ihr, als sie vom Tisch hinunterglitt. Als ihre Füße den Boden berührten, brach sie unter den Schmerzen zusammen. Nathan fing sie mit starken Armen auf und half ihr, vor dem bewußtlosen Zauberer niederzuknien.
»Hilf mir, Nathan. Öffne ihn für mich. Sie hat mir fast alle meine Finger gebrochen.«
Zitternd legte sie dem Zauberer den Ring um den Hals. Mit ihren Handflächen gelang es ihr schließlich, ihn einschnappen zu lassen. Damit schloß sie nicht nur den Ring, sondern auch dessen Magie. Die Prophezeiung hatte sich erfüllt.
In der Tür stand Holly. »Ist Großmutter tot?«
Ann ließ sich auf die Fersen zurückfallen. »Ja, mein Kind. Es tut mir leid.« Sie hielt ihr die Hand hin. »Wie würde es dir gefallen, bei einer Heilung statt bei einer Folter zuzusehen?«
Holly ergriff die Hand vorsichtig. Sie warf einen Blick auf den am Boden liegenden Zauberer. »Und er? Wirst du ihn auch heilen?«
»Ja, Holly, ihn auch.«
»Deswegen habe ich ihn reingeholt — damit ihm jemand hilft. Nicht, damit er umgebracht wird. Sie war immer so gemein.«
»Ich weiß«, sagte Ann.
Eine Träne lief dem Mädchen über die Wange. »Und was soll jetzt aus mir werden?« fragte sie leise.
Ann lächelte unter Tränen. »Ich bin Annalina Aldurren, Prälatin der Schwestern des Lichts, und das schon eine ganze Weile. Ich habe so manche junge Frau aufgenommen, die die Gabe besaß, und ihr gezeigt, eine wundervolle Frau zu werden, die den Menschen hilft und sie heilt. Ich wäre überglücklich, wenn du bei uns eintreten würdest.«
Holly nickte, und ein Lächeln stahl sich auf ihr tränenverschmiertes Gesicht. »Für mich hat Großmutter immer gesorgt, aber zu anderen Menschen war sie gemein, manchmal jedenfalls. Meist zu denen, die uns weh tun oder uns betrügen wollten. Aber das hast du nie versucht. Es war nicht recht von ihr, dir weh zu tun. Es tut mir leid, daß sie nicht netter war. Es tut mir leid, daß sie gemein war und sterben mußte.«