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Prälatin Annalina Aldurren betrachtete ihn einen Augenblick lang stumm, mit versteinerter Miene. »Mach keine Versprechungen, die du nicht halten kannst.«

»Stell mich auf die Probe.«

Ein entrücktes Lächeln streifte ihre Lippen. »Wir müssen aufbrechen.«

Zedd nickte grimmig entschlossen. »So sei es.«

Verna wurde sich nur allmählich dessen bewußt, daß sie wach war. Mit geschlossenen Augen war es ebenso dunkel wie mit offenen. Sie blinzelte und versuchte festzustellen, ob sie wirklich bei Bewußtsein war.

Sie entschied, daß sie tatsächlich wach war, und rief ihr Han herbei, um eine Flamme anzuzünden. Es kam nicht. Sie versenkte sich tiefer in ihr Inneres und schöpfte noch mehr Kraft.

Mit äußerster Anstrengung gelang es ihr schließlich, eine kleine Flamme in ihrer Handfläche zu entzünden. Auf dem Boden neben dem Strohlager, auf dem sie saß, stand eine Kerze. Sie schickte die Flamme in den Kerzendocht und sank erleichtert zusammen, denn nun konnte sie auch ohne die ungeheure Anstrengung, die erforderlich war, um eine Flamme mit ihrem Han am Brennen zu halten, sehen.

Die Kammer war leer bis auf das Strohlager und die Kerze sowie, an der gegenüberliegenden Wand, ein kleines Tablett mit Brot und einer Blechtasse mit Wasser und einem Gefäß, das aussah wie ein Nachttopf. Besonders groß war der Raum nicht. Fenster gab es keine, nur eine schwere Holztür.

Verna erkannte die Kammer wieder. Es war eine der Zellen des Krankenreviers. Was suchte sie im Krankenrevier?

Als ihr Blick nach unten fiel, stellte sie fest, daß sie nackt war. Sie drehte sich zur Seite und sah ihre Kleider, zu einem Stapel zusammengelegt. Beim Umdrehen spürte sie etwas an ihrem Hals. Sie langte vorsichtig nach oben und betastete ihren Hals.

Ein Rada’Han.

Ein Kribbeln lief über ihre Haut. Gütiger Schöpfer, sie hatte einen Rada’Han um den Hals. Eine Woge von Panik schlug schwindelerregend über ihr zusammen. Sie griff nach ihrem Hals, versuchte, ihn herunterzureißen. Sie hörte, wie ihrer Kehle ein Schrei entfuhr, während sie entsetzt wimmernd voller Verzweiflung an dem unnachgiebigen Metallring zerrte.

Voller Abscheu wurde ihr bewußt, was die jungen Burschen dabei empfinden mußten, wenn man ihnen dieses Werkzeug der Herrschaft umlegte. Wie viele Male hatte sie persönlich einen Halsring benutzt, um jemandem ihren Willen aufzuzwingen? Aber doch nur, um ihnen zu helfen — nur zu ihrem Besten. Empfanden sie dieselbe ohnmächtige Angst?

Voller Scham erinnerte sie sich daran, wie sie den Ring bei Warren benutzt hatte.

»Gütiger Schöpfer, vergib mir«, weinte sie. »Ich wollte nur dein Werk tun.«

Sie unterdrückte schniefend ihre Tränen und riß sich zusammen. Sie mußte herausfinden, was vorgefallen war. Diesen Ring trug sie jedenfalls nicht zu ihrem Wohl. Er war da, um sie zu beherrschen.

Verna betastete ihre Hand. Der Ring der Prälatin war verschwunden. Ihr Mut sank. Sie hatte in ihrer Position versagt. Sie küßte den bloßen Finger und flehte inständig um Kraft.

Als sich auf Betätigen der Klinke nichts rührte, schlug sie mit der Faust gegen die Tür. Sie nahm all ihre Kraft zusammen, richtete sie auf den Türgriff und versuchte, ihn mit Gewalt zu bewegen, jedoch ohne Erfolg. Sie jagte ihre Kraft wütend in die Angeln, die sie auf der anderen Seite wußte. Voller Wut konzentrierte sie sich und versuchte es mit ihrem Han. Zungen aus Licht, grün vor mentaler Gereiztheit, schlugen gegen die Tür, züngelten durch die Ritzen und zuckten unter dem Spalt am Boden hindurch.

Verna kappte den ohnmächtigen Strom ihres Han, als ihr einfiel, wie sie Schwester Simona das gleiche Stunde um Stunde hatte versuchen sehen — mit dem gleichen unbefriedigenden Ergebnis. Der Schild an der Tür war von jemanden, der einen Rada’Han trug, nicht zu durchbrechen. So unvernünftig, ihre Kräfte in einer sinnlosen Anstrengung zu vergeuden, war sie nicht. Vielleicht war Simona verrückt, sie auf jeden Fall nicht.

Verna ließ sich auf das Strohlager zurückfallen. Trommeln gegen die Tür würde sie nicht hier herausbringen. Ihre Gabe würde sie nicht hier herausbringen. Sie saß in der Falle.

Warum war sie hier? Sie betrachtete den Finger, an den der Ring der Prälatin gehörte. Deshalb also.

Sie stieß einen Schrecklaut aus, als ihr die echte Prälatin einfiel. Ann hatte sie mit einer Mission beauftragt und war darauf angewiesen, daß sie, Verna, die Schwestern des Lichts vor Jagangs Eintreffen fortschaffte.

Sie stürzte sich auf ihre Kleider und durchwühlte sie hektisch. Ihr Dacra war verschwunden. Wahrscheinlich hatte man sie deshalb ausgezogen: Sie sollte keine Waffe tragen. Mit Schwester Simona hatte man das gleiche gemacht, um sicherzustellen, daß sie sich nicht selbst etwas antat. Einer Verrückten durfte man keine tödliche Waffe lassen.

Ihre Finger fanden den Gürtel. Sie riß ihn aus dem Kleiderberg hervor, betastete ihn der Länge nach und fand die Schwellung im dicken Leder.

Vor Hoffnung zitternd, hielt Verna den Gürtel in die Nähe der Kerze. Sie riß die falsche Naht auf. Dort, verborgen in der Geheimtasche, steckte das Reisebuch. Sie drückte den Gürtel an ihre Brust und dankte dem Schöpfer, wiegte sich dabei auf dem Strohlager hin und her und preßte den Gürtel fest an ihren Körper. Wenigstens das hatte sie noch.

Schließlich beruhigte sie sich, zog ihre Kleider in die Nähe des schwachen Lichts und kleidete sich an. Jetzt, wo sie nicht mehr nackt war, fühlte sie sich ein wenig besser. Die Demütigung brauchte sie nicht länger zu ertragen.

Verna wußte nicht, wie lange sie bewußtlos gewesen war, mußte aber feststellen, daß sie völlig ausgehungert war. Sie verschlang den Kanten Brot und stürzte das Wasser hinunter.

Nachdem ihr Magen wenigstens teilweise zufriedengestellt war, konzentrierte sie sich auf die Frage, wieso sie in diesem Raum gelandet war. Schwester Leoma. Schwester Leoma und drei andere hatten in ihrem Büro auf sie gewartet.

Schwester Leoma stand ganz weit oben auf ihrer Liste der vermeintlichen Schwestern der Finsternis. Sie war zwar nicht überprüft worden, trotzdem war sie daran beteiligt, daß man Verna hier eingesperrt hatte. Das war Beweis genug. Es war dunkel gewesen, und sie hatte die anderen drei nicht erkannt, aber sie hatte eine Liste der Verdächtigen im Kopf. Phoebe und Dulcinia hatten sie hereingelassen — gegen ihren ausdrücklichen Befehl. Sosehr es ihr widerstrebte, auch sie mußten auf die Liste gesetzt werden.

Verna begann, in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Allmählich wurde sie wütend. Wie konnten sie nur glauben, damit ungestraft davonzukommen?

Sie waren bereits ungestraft davongekommen.

Ihr Gesicht nahm einen finsteren Ausdruck an. Nein, das waren sie nicht. Ann hatte ihr diese Verantwortung übertragen, und sie würde sich dieses Vertrauens würdig erweisen. Sie würde die Schwestern des Lichts aus dem Palast bringen.

Verna berührte den Gürtel mit den Fingern. Sie sollte eine Nachricht abschicken. Konnte sie das wagen, hier drinnen? Das konnte alles ruinieren. Aber sie mußte Ann berichten, was geschehen war.

Ganz plötzlich hielt sie in ihrem Hin- und Hergelaufe inne. Wie sollte sie Ann erklären, daß sie versagt hatte und daß wegen ihr alle Schwestern des Lichts in tödlicher Gefahr schwebten, während sie keine Möglichkeit hatte, etwas dagegen zu unternehmen? Jagang war auf dem Weg hierher. Sie mußte fliehen. Solange sie im Gefängnis saß, wußte keine der Schwestern, daß sie ebenfalls fliehen mußten.

Und Jagang würde sich ihrer aller bemächtigen.

Richard sprang ab, als das Pferd rutschend zum Stehen kam. Er blickte die Straße hinunter und sah, wie die anderen weit unten versuchten, ihn im Galopp einzuholen. Er rieb dem Pferd die Nase und ging daran, die Zügel an einem Eisenhebel des Fallgittermechanismus zu befestigen.

Er ließ den Blick über die Zahnräder und Hebel wandern und befestigte die Zügel statt dessen an einer Welle. Dort, wo er die Zügel zuerst hatte befestigen wollen, befand sich der Auslösehebel für das riesige Tor. Ein fester Ruck, und das Fallgitter hätte auf das Pferd herunterrasseln können.