Letzte Woche haben sich die Dinge zugespitzt. Es kam zu einem Aufstand, den wir von den Wachen niederschlagen lassen mußten. Es hat nicht viel gefehlt, und die Menschen hätten den Palast gestürmt, weil wir so grausam sind, diese jungen Frauen und ihre Kinder verhungern zu lassen. Viele unserer jungen Männer schlossen sich der Erhebung an, weil du ihnen das Recht auf Gold aus dem Palast genommen hast.«
Verna fragte sich, was die wahren Gründe für diesen ›Aufstand‹ gewesen sein mochten — wenn man dachte, daß junge Zauberer daran beteiligt waren. Leoma würde jedoch kaum mit der Wahrheit herausrücken. Verna wußte, daß es gute Männer unter diesen jungen Zauberern gab, und hatte Angst um ihr Schicksal.
»Unser Gold untergräbt die Moral eines jeden, der damit in Berührung kommt«, verteidigte sich Verna. Sie wußte, daß der Versuch, sich zu rechtfertigen, Zeitverschwendung war. Ihr Gegenüber war für Vernunft — oder die Wahrheit — nicht zugänglich.
»Tausende von Jahren hat es funktioniert. Aber natürlich widerstrebt es dir, daß das Gute dieser Regelung Früchte trägt und damit den Schöpfer unterstützt. Man hat diese Befehle aufgehoben, wie auch noch andere deiner ruinösen Anweisungen.
Natürlich willst du nicht, daß wir in der Lage sind zu entscheiden, ob junge Männer fähig sind, sich der Welt zu stellen — sie sollen ja versagen, wenn es nach dir geht —, daher hast du die Schmerzensprüfung verboten. Auch dieser Befehl wurde aufgehoben.
Seit dem Tag, an dem du Prälatin wurdest, hast du die Lehre des Palastes in den Schmutz gezogen. Du selbst bist für den Tod der Prälatin verantwortlich — und dann benutzt du auch noch deine Tricks aus der Unterwelt, um dich als Prälatin einzusetzen, damit du uns vernichten kannst.
Nie hast du auf den Rat deiner Beraterinnen gehört, denn du hattest gar nicht die Absicht, den Fortbestand des Palastes zu sichern. Du hast dir nicht mal mehr die Mühe gemacht, einen Blick in die Berichte zu werfen. Statt dessen hast du deine Arbeit unerfahrenen Verwalterinnen aufgebürdet, während du dich in deinem Heiligtum eingeschlossen hast, um dich mit dem Hüter zu besprechen.«
Verna seufzte. »Das ist also der Grund, ja? Meinen Verwalterinnen gefällt es nicht, daß sie arbeiten müssen? Ein paar habgierige Menschen sind unzufrieden, weil ich mich weigere, das Gold aus dem Palastschatz zu verteilen, nur weil sie beschließen, sich schwängern zu lassen, anstatt eigene Familien zu gründen und Kinder in die Welt zu setzen? Bestimmte Schwestern sind verstimmt, weil ich unseren jungen Männern nicht mehr gestatte, ihrer ungezügelten Selbstbelohnung nachzugehen? Das Wort von sechs Schwestern, die fliehen, anstatt hierzubleiben, damit sie angehört werden können, wird aus heiterem Himmel ernst genommen? Und eine von ihnen bezeichnest du sogar als Prälatin! Und das alles ohne einen einzigen handfesten Beweis?«
Endlich erschien ein Lächeln auf Leomas Lippen. »Oh, wir haben einen handfesten Beweis, Verna. Aber ja.«
Mit einem selbstzufriedenen Ausdruck im Gesicht griff sie in eine Tasche und zog ein Blatt Papier hervor. »Wir haben einen sehr handfesten, überzeugenden Beweis, Verna.« Feierlich faltete sie das Papier auseinander, dann kam ihr strenger Blick erneut auf Verna zur Ruhe. »Und noch einen weiteren Zeugen. Warren.«
Verna zuckte zusammen, als hätte man sie ins Gesicht geschlagen. Sie erinnerte sich an die Nachrichten, die sie von der Prälatin und von Nathan erhalten hatte. Nathan hatte voller Panik darauf hingewiesen, daß Warren den Palast verlassen müsse. Ann hatte immer wieder betont, Verna müsse augenblicklich für Warrens Aufbruch sorgen.
»Weißt du, was das ist, Verna?« Verna wagte nicht zu sprechen oder auch nur mit der Wimper zu zucken. »Ich glaube, du weißt es. Es ist eine Prophezeiung. Nur eine Schwester der Finsternis wäre so vermessen, ein solch belastendes Dokument herumliegen zu lassen. Wir haben es unten in den Gewölbekellern gefunden, in einem Buch versteckt. Vielleicht hattest du es schon vergessen? Dann will ich es dir vorlesen.«
»Wenn die Prälatin und der Prophet in dem geheiligten Ritual dem Feuer übergeben werden, werden die Flammen einen Kessel voller Arglist zum Sieden bringen und einer falschen Prälatin zum Aufstieg verhelfen, die über den Untergang des Palastes der Propheten herrschen wird.«
Leoma faltete das Blatt zusammen und ließ es zurück in ihre Tasche gleiten. »Du wußtest, daß Warren ein Prophet war, und du hast ihm seinen Halsring abgenommen. Du hast einen Propheten frei herumlaufen lassen — an sich bereits ein schlimmes Vergehen.«
»Und wie kommst du darauf, daß Warren diese Prophezeiung abgegeben hat?« erkundigte sich Verna vorsichtig.
»Warren hat es selbst ausgesagt. Es hat eine Weile gedauert, bis er sich schuldig bekannte, diese Prophezeiung abgegeben zu haben.«
Vernas Stimme wurde immer erregter. »Was habt ihr ihm angetan?«
»Wir haben, wie es unsere Pflicht ist, den Rada’Han benutzt, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Schließlich hat er gestanden.«
»Seinen Rada’Han? Ihr habt ihm den Halsring wieder angelegt?«
»Natürlich. Ein Prophet muß einen Halsring tragen. Als Prälatin war es deine Pflicht, dafür zu sorgen. Warren trägt wieder einen Halsring und befindet sich hinter Schild und Riegel in den Gewölbekellern, wo er hingehört.
Der Palast der Propheten wurde wieder auf den Weg gebracht, auf den er gehört. Diese Prophezeiung war das letzte Beweisstück, das schließlich zur Verurteilung führte. Sie bewies die Falschheit deines Tuns und offenbarte deine wahren Absichten. Zum Glück konnten wir handeln, bevor du dafür sorgen konntest, daß die Prophezeiung sich erfüllt. Du bist gescheitert.«
»Nichts von alldem stimmt, und das weißt du ganz genau!«
»Warrens Prophezeiung beweist deine Schuld. Du wirst darin als falsche Prälatin bezeichnet, und deine Pläne zur Zerstörung des Palastes der Propheten werden darin offenbart.« Ihr Lächeln kehrte zurück. »Es gab eine ziemliche Aufregung, als sie vor dem Tribunal vorgelesen wurde. Ein recht verräterischer, handfester Beweis, würde ich sagen.«
»Du mieses Stück. Ich werde für deinen Tod sorgen.«
»Von einer wie dir erwarte ich nichts anderes. Glücklicherweise bist du nicht in der Lage, deine Drohungen wahr zu machen.«
Den Blick auf Leomas Augen gerichtet, küßte Verna ihren Ringfinger. »Warum küßt du nicht deinen Finger, Schwester Leoma, und bittest den Schöpfer in diesen schweren Zeiten um Hilfe für den Palast der Propheten?«
Leoma breitete die Hände aus, ein spöttisches Lächeln auf den Lippen. »Der Palast ist jetzt nicht mehr in Not, Verna.«
»Küsse deinen Finger, Leoma, und zeige dem geliebten Schöpfer deine Sorge um das Wohlergehen der Schwestern des Lichts.«
Leoma führte ihre Hand nicht an die Lippen. Sie konnte nicht, und Verna wußte es. »Ich bin nicht hergekommen, um zum Schöpfer zu beten.«
»Natürlich nicht, Leoma. Du und ich, wir wissen beide, daß du eine Schwester der Finsternis bist — genau wie die neue Prälatin. Daran besteht kein Zweifel mehr. Ulicia ist die falsche Prälatin aus der Prophezeiung.«
Leoma zuckte mit den Achseln. »Du, Verna, bist die erste Schwester, die eines so schweren Verbrechens für schuldig befunden wurde. Der Schuldspruch kann nicht aufgehoben werden.«
»Wir sind unter uns, Leoma. Niemand kann uns hinter all den Schilden hören, außer natürlich jemand, der Subtraktive Magie besitzt, und vor dessen Ohren brauchst du dich nicht zu fürchten. Keine der wahren Schwestern des Lichts kann hören, was wir sagen. Wollte ich jemanden etwas von dem erzählen, das du vielleicht mitzuteilen hast, würde mir niemand glauben.
Also lassen wir die Masken fallen. Wir kennen beide die Wahrheit.«
Ein dünnes Lächeln erschien auf Leomas Lippen. »Sprich weiter.«
Verna holte tief Luft und faltete die Hände in ihrem Schoß. »Du hast mich nicht getötet, so wie Ulicia es mit Prälatin Annalina gemacht hat. Du hättest dir nicht die Mühe dieser ganzen Heuchelei gemacht, wenn du vorgehabt hättest, mich umzubringen. Offensichtlich willst du etwas. Was ist es?«