Sogar jetzt konnte sie ein schwaches Glühen um das Buch erkennen. Einen ähnlichen Bann hatte sie noch nie gesehen, und ihr war schleierhaft, wie er es geschafft hatte, ihn anzubringen, obwohl sie eine Sperre um seine Kraft errichtet hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sie das Buch öffnen sollte, ohne getötet zu werden.
Ann hockte sich neben das Bettzeug. »Zauberer Zorander, sicherlich hast du allen Grund, über mich erzürnt zu sein, aber hier geht es um Leben und Tod. Ich muß eine Nachricht abschicken. Das Leben von Schwestern steht auf dem Spiel. Zauberer Zorander, bitte. Es könnte sein, daß Schwestern sterben. Ich weiß, du bist ein guter Mensch und würdest das nicht wollen.«
Er holte einen Finger unter der Decke hervor und zeigte auf sie. »Du hast mich zum Sklaven gemacht. Das hast du dir und deinen Schwestern selbst eingebrockt. Ich sagte es bereits, du hast das Abkommen gebrochen und damit deine Schwestern zum Tod verurteilt. Du bringst das Leben von Menschen, die ich liebe, in Gefahr. Du hast mich daran gehindert, die magischen Gegenstände in der Burg zu beschützen. Du bringst das Leben meines Volkes in den Midlands in Gefahr. All diese Menschen könnten sterben, nur weil du mir das angetan hast.«
»Begreifst du nicht, daß unser aller Leben miteinander verknüpft ist? Dies ist ein Krieg gegen die Imperiale Ordnung, nicht zwischen uns. Ich möchte dir keinen Schaden zufügen, nur damit du mir hilfst.«
Er knurrte. »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe: du oder Nathan, einer von euch sollte immer wach bleiben. Solltet ihr beide schlafen, wirst du nie wieder aufwachen. Das ist eine faire Warnung, auch wenn du sie nicht verdient hast.«
Er wälzte sich auf die andere Seite und zog die Decke hoch.
Gütiger Schöpfer, geschah all dies gemäß der Prophezeiung, oder lief alles fürchterlich verkehrt? Ann ging ums Feuer herum zu Nathan.
»Nathan, kannst du ihm nicht ein wenig Vernunft beibringen?«
Nathan sah sie an. »Ich sagte es bereits, dieser Teil des Planes ist der reine Wahnsinn. Einem jungen Mann einen Halsring umzulegen ist eine Sache, aber dies bei einem Zauberer der Ersten Ordnung zu tun ist etwas völlig anderes. Es war deine Idee, nicht meine.«
Sie biß die Zähne zusammen und packte ihn am Hemd. »Verna könnte in diesem Halsring getötet werden. Wenn sie stirbt, schweben auch unsere Schwestern in tödlicher Gefahr.«
Er nahm einen Löffel Bohnen. »Ich habe dich von Anfang an vor diesem Plan gewarnt. In der Burg bist du fast umgekommen. Dieser zweite Teil der Prophezeiung jedoch ist noch gefährlicher. Ich habe mit ihm gesprochen, er sagt dir die Wahrheit. Soweit es ihn betrifft, bringst du seine Freunde in Lebensgefahr. Wenn er kann, wird er dich töten, um zu fliehen und ihnen zu helfen. Daran habe ich keinen Zweifel.«
»Nathan, wie kannst du nach all den Jahren, die wir zusammen waren, so gefühllos sein?«
»Du meinst, wie kann ich mich nach all den Jahren der Gefangenschaft immer noch dagegen wehren?«
Ann wandte ihr Gesicht ab, als ihr eine Träne über die Wange lief. Sie würgte den Kloß in ihrem Hals hinunter.
»Nathan«, meinte sie leise, »hast du ein einziges Mal in all der Zeit, die du mich kennst, gesehen, daß ich jemandem etwas Grausames angetan hätte — aus einem anderen Grund, als Leben zu beschützen? Habe ich deines Wissens ein einziges Mal aus einem anderen Grund für etwas gekämpft, als Leben und Freiheit zu bewahren?«
»Ich nehme an, du meinst eine andere Freiheit als die meine.«
Sie räusperte sich. »Ich weiß, ich werde mich dem Schöpfer gegenüber dafür verantworten müssen. Aber ich tue es, weil ich nicht anders kann und weil ich dich mag, Nathan. Ich weiß, was draußen in der Welt aus dir werden würde. Du würdest von Menschen, die dich nicht verstehen, gejagt und umgebracht.«
Nathan warf seine Schale zu den anderen. »Willst du die erste oder die zweite Wache?«
Sie drehte sich wieder zu ihm um. »Wenn du so versessen auf deine Freiheit bist, was hindert dich dann, während deiner Wache einzuschlafen, damit ich getötet werde?«
Seine durchdringenden blauen Augen nahmen einen bitteren Ausdruck an. »Ich will diesen Halsring loswerden. Das einzige, was ich dafür nicht tun werde, ist, dich zu töten. Wäre ich bereit, diesen Preis zu bezahlen, wärst du schon tausendmal tot, und das weißt du.«
»Tut mir leid, Nathan. Ich weiß, du bist ein guter Mann, und ich bin mir durchaus der entscheidenden Rolle bewußt, die du dabei gespielt hast, mir beim Bewahren des Lebens zu helfen. Dich dazu zwingen zu müssen tut mir im Herzen weh.«
»Mich zwingen?« Er lachte. »Ann, du bist die komischste Frau, die mir je begegnet ist. Das meiste davon hätte ich um nichts missen wollen. Welche andere Frau hätte mir ein Schwert gekauft? Oder mir einen Grund gegeben, es zu benutzen?
Diese tollkühne Prophezeiung besagt, daß du ihn zornig herbeibringen mußt, und du machst deine Sache ganz hervorragend. Ich fürchte, es könnte sogar funktionieren. Ich werde die erste Wache übernehmen. Vergiß nicht, nach deinem Bettzeug zu sehen. Diesen Schneeflöhen bin ich immer noch nicht auf die Schliche gekommen.«
»Ich auch nicht. Mich juckt es noch immer.« Sie kratzte sich gedankenverloren am Hals. »Wir sind fast zu Hause. Bei diesem Tempo wird es nicht mehr lange dauern.«
»Zuhause«, meinte er spöttisch. »Und dann bringst du uns um.«
»Gütiger Schöpfer«, sagte sie leise bei sich, »was bleibt mir für eine Wahl?«
Richard lehnte sich in seinem Sessel zurück und gähnte. Er war so müde, daß er kaum die Augen offenhalten konnte. Sein Räkeln und Gähnen veranlaßte Berdine, die unmittelbar neben ihm saß, das gleiche zu tun. Raina, auf der anderen Seite des Zimmers an der Tür, wurde ebenfalls von dem Gähnen angesteckt. Es klopfte, und Richard sprang auf. »Herein!« Egan steckte seinen Kopf herein. »Ein Bote ist hier.« Richard machte eine Handbewegung, und Egans Kopf verschwand. Ein d’Haranischer Soldat in einem schweren Umhang und nach Pferd riechend kam hereingeeilt und salutierte mit der Faust auf seinem Herzen.
»Setz dich. Du siehst aus, als hättest du einen anstrengenden Ritt hinter dir«, sagte Richard.
Der Soldat richtete die Streitaxt an seinem Gürtel und blickte kurz auf den Stuhl. »Mir geht es gut, Lord Rahl, aber ich fürchte, ich habe nichts zu berichten.«
Richard sank in seinen Sessel zurück. »Verstehe. Keine Spur? Nichts?«
»Nein, Lord Rahl. General Reibisch trug mir auf, Euch mitzuteilen, daß sie gut vorankommen und jeden Zoll absuchen, bis jetzt aber keine Spur gefunden haben.«
Richard seufzte enttäuscht. »Na gut. Danke. Am besten gehst du etwas essen.«
Der Mann salutierte und verabschiedete sich. Seit zwei Wochen, beginnend eine Woche nach dem Aufbruch der Streitmacht, hatten Richard jeden Tag Boten Bericht erstattet. Da das Heer sich aufgeteilt hatte, um verschiedene Routen abzudecken, schickte jede Gruppe ihre eigenen Boten. Dies war an diesem Tag der fünfte.
Berichte über Ereignisse zu hören, die Wochen zuvor, als die Boten von ihren Einheiten aufgebrochen waren, geschehen waren, das war, als sähe man dabei zu, wie Geschichte passierte. Welche Entwicklung ihm auch zu Ohren kam, sie hatte in der Vergangenheit stattgefunden. Soweit Richard wußte, konnte es sein, daß sie Kahlan vor einer Woche gefunden hatten und sich auf dem Rückweg befanden, während er noch immer Berichte über Mißerfolge zu hören bekam. An diese unerschütterliche Hoffnung klammerte er sich vor allem.
Er hatte die Zeit genutzt und sich von all den Sorgen nicht ablenken lassen, indem er an der Übersetzung des Tagebuches arbeitete. Das vermittelte ihm weitgehend das gleiche Gefühl wie der Erhalt der täglichen Berichte, wie das Beobachten des Ablaufs der Geschichte. Schon bald verstand Richard mehr von diesem Dialekt des Hoch-D’Haran als Berdine.
Da er die Geschichte von Die Abenteuer von Bonnie Day kannte, hatten sie größtenteils damit gearbeitet und, nachdem sie die Bedeutung der Wörter herausgefunden hatten, eine lange Liste mit Vokabeln erstellt, die ihnen Anhaltspunkte für das Tagebuch lieferten. Durch das Lernen der Wörter konnte Richard immer größere Teile des Buches lesen, indem er den genauen Wortlaut Stück für Stück zusammensetzte. Das wiederum ermöglichte ihm, immer mehr Leerstellen in seinem Gedächtnis aufzufüllen und dadurch noch mehr Wörter zu verstehen.