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Mittlerweile war es oft einfacher für ihn, sein frischgewonnenes Wissen einfach zu benutzen, um direkt aus dem Tagebuch zu übersetzen, als es Berdine zu zeigen und sie die Arbeit machen zu lassen. Er fing an, im Schlaf auf Hoch-D’Haran zu träumen und es im Wachzustand zu sprechen.

Der Zauberer, der das Tagebuch geschrieben hatte, nannte nirgendwo seinen Namen. Es handelte sich nicht um offizielle Aufzeichnungen, sondern um ein privates Tagebuch, daher hatte er keinen Grund, sich mit Namen zu nennen. Berdine und Richard waren dazu übergegangen, ihn Kolo zu nennen, eine Kurzform für koloblicin, ein hoch-d’Haranisches Wort, das ›Starker Ratgeber‹ bedeutete.

Mit Richards wachsendem Verständnis des Tagebuches trat ein zunehmend beängstigendes Bild zutage. Kolo hatte sein Tagebuch während jenes Krieges in der Vorzeit geführt, in dessen Folge die Türme der Verdammnis im Tal der Verlorenen aufgestellt worden waren. Schwester Verna hatte ihm einmal erzählt, die Türme hätten dieses Tal mehr als dreitausend Jahre lang bewacht und hätten einzig dem Zweck gedient, einen großen Krieg zu verhindern. Nachdem er erfahren hatte, wie verzweifelt diese Zauberer daran gearbeitet hatten, die Türme zu aktivieren, bereitete es Richard zunehmend Sorge, daß er sie zerstört hatte.

An einer Stelle hatte Kolo davon gesprochen, daß seine Tagebücher ihn seit seiner Jugend begleitet und er etwa eins pro Jahr vollgeschrieben habe. Dieses, Nummer siebenundvierzig, mußte also verfaßt worden sein, als er irgendwo zwischen Anfang und Mitte fünfzig war. Richard hatte vor, in die Burg zu gehen und Kolos andere Tagebücher zu suchen, doch dieses barg noch immer viele Geheimnisse.

Offenbar hatte Kolo in der Burg die Aufgabe eines Vertrauten und Ratgebers innegehabt. Die meisten Zauberer besaßen beide Seiten der Gabe, die Additive sowohl als auch die Subtraktive, einige jedoch nur die Additive. Kolo empfand großes Mitleid mit denen, die nur mit einer Seite der Gabe geboren waren, und hatte das Gefühl, sie in Schutz nehmen zu müssen. Viele betrachteten diese ›unglücklichen Zauberer‹ angeblich als nahezu hilflos, Kolo jedoch war der Ansicht, daß sie auf ihre einzigartige Weise auch ihren Teil beitragen konnten, und setzte sich für ihre Gleichberechtigung in der Burg ein.

Zu Kolos Zeit lebten Hunderte von Zauberern dort oben, und es wimmelte von Familien, Freunden und Kindern. Die jetzt menschenleeren Hallen waren einst von Gelächter, Gesprächen und unbeschwerter Harmonie erfüllt gewesen. Verschiedentlich erwähnte Kolo eine Fryda, wahrscheinlich seine Frau, sowie seinen Sohn und seine jüngere Tochter. Kinder waren auf bestimmte Ebenen in der Burg beschränkt und besuchten Unterrichtsstunden, in denen sie die typischen Fächer wie Lesen, Schreiben und Rechnen, aber auch Prophezeiungen und den Gebrauch der Gabe lernten.

Doch über dieser gewaltigen, von Leben, Arbeit und Familienglück überschäumenden Burg hing der Schatten des Todes. Die Welt befand sich im Krieg.

Es gehörte unter anderem zu Kolos Pflichten, die Sliph zu bewachen, wenn er an der Reihe war. Richard erinnerte sich, daß der Mriswith in der Burg ihn gefragt hatte, ob er gekommen sei, die Sliph zu wecken. Dabei hatte er nach unten auf den Raum gedeutet, wo sie Kolos Tagebuch gefunden hatten, und gesagt, endlich sei der Weg zu ihr wieder frei. Auch Kolo bezeichnete die ›Sliph‹ als eine »Sie«, wenn er gelegentlich davon sprach, ›sie‹ beobachte ihn beim Schreiben seines Tagebuches.

Weil es so mühsam war, das Tagebuch auf Hoch-D’Haran zu entziffern, waren sie davon abgekommen, hin und her zu springen, denn das führte bloß dazu, sie zu verwirren. Es war einfacher, am Anfang zu beginnen und die Worte der Reihenfolge nach zu übersetzen, und auf diese Weise Kolos Eigenarten im Gebrauch der Sprache kennenzulernen, was es ihnen wiederum erleichterte, Besonderheiten seiner Ausdrucksweise zu erkennen. Sie hatten das Tagebuch erst zu einem Viertel übertragen, aber der Vorgang gewann mit Richards Erlernen des Hoch-D’Haran beträchtlich an Tempo.

Als Richard sich zurücklehnte und erneut gähnte, beugte sich Berdine zu ihm. »Was bedeutet dieses Wort?«

»›Schwert‹«, antwortete er ohne Zögern. Er erinnerte sich an das Wort aus Die Abenteuer von Bonnie Day.

»Hm. Seht her. Ich glaube, Kolo spricht von Eurem Schwert.«

Die Vorderbeine von Richards Stuhl knallten mit einem dumpfen Schlag auf den Boden, als er sich nach vorne beugte. Er nahm das Buch und das Stück Papier zur Hand, das sie benutzt hatte, um die Übersetzung niederzuschreiben. Richard überflog die Übersetzung, dann nahm er das Original und zwang sich, es in Kolos Worten zu lesen.

Heute ist der dritte Versuch gescheitert, ein Schwert der Wahrheit zu schmieden. Die Frauen und Kinder der fünf Männer wandeln weinend vor untröstlicher Seelenqual durch die Korridore. Wie viele Männer werden noch sterben, bis wir Erfolg haben oder den Versuch als unmöglich aufgeben? Das Ziel ist es vielleicht wert, doch der Preis wird immer furchtbarer.

»Ihr habt recht. Offenbar schreibt er darüber, wie sie versucht haben, das Schwert der Wahrheit herzustellen.«

Richard erschauderte, als er erfuhr, daß Männer bei der Herstellung seines Schwertes ums Leben gekommen waren. Ihm wurde sogar ein wenig übel dabei. Er hatte das Schwert immer für einen Gegenstand der Magie gehalten und geglaubt, es sei vielleicht ein gewöhnliches Schwert, das ein mächtiger Zauberer irgendwann einmal mit einem Bann belegt hatte. Zu erfahren, daß Menschen bei seiner Erschaffung gestorben waren, erfüllte ihn mit Scham, weil er es die meiste Zeit als selbstverständlich hingenommen hatte.

Richard wandte sich dem nächsten Abschnitt des Tagebuches zu. Eine Stunde lang zog er die Listen und Berdine zu Rate, dann hatte er ihn übersetzt.

Vergangene Nacht haben unsere Feinde Attentäter durch die Sliph geschickt. Wäre der Wachhabende nicht so aufmerksam gewesen, hätten sie Erfolg damit gehabt. Sind die Türme erst fertig, wird die Alte Welt wahrhaftig abgeschottet sein, und die Sliph wird schlafen. Dann werden wir alle ruhen können — bis auf den Unglücklichen, der Wache schiebt. Wir sind zu dem Schluß gekommen, daß wir unmöglich wissen können, wann — wenn überhaupt — die Banne entfacht werden oder sich jemand in der Sliph befindet, daher kann der Wachhabende nicht rechtzeitig abberufen werden. Wenn die Türme zum Leben erweckt werden, wird der Mann, der sie bewacht, mit ihr versiegelt werden.

»Die Türme«, sagte Richard. »Als sie die Türme fertiggestellt haben, die die Alte von der Neuen Welt trennen, wurde jener Raum ebenfalls versiegelt. Deswegen war Kolo dort unten. Er konnte nicht heraus.«

»Und warum ist der Raum dann jetzt offen?« fragte Berdine.

»Weil ich die Türme zerstört habe. Wißt Ihr noch, wie ich sagte, es sähe so aus, als sei Kolos Raum innerhalb der letzten paar Monate gesprengt worden? Daß der Schimmel von den Wänden verbrannt sei und noch keine Zeit gehabt habe nachzuwachsen? Es muß passiert sein, weil ich die Türme zerstört habe. Außerdem wurde dadurch Kolos Raum zum ersten Mal seit dreitausend Jahren entsiegelt.«

»Warum sollte jemand den Raum mit dem Brunnen versiegeln?«

Richard mußte sich zwingen, ein verständnisloses Gesicht aufzusetzen. »Ich glaube, diese Sliph, von der Kolo ständig spricht, lebt in diesem Brunnen.«

»Was ist diese Sliph? Der Mriswith hat sie ebenfalls erwähnt.«

»Das weiß ich nicht, aber irgendwie haben sie diese Sliph, was immer sie ist, benutzt, um an andere Orte zu reisen. Kolo spricht davon, der Feind habe Attentäter durch die Sliph geschickt. Sie haben gegen die Menschen in der Alten Welt gekämpft.«

Berdine senkte besorgt die Stimme und beugte sich zu ihm vor.

»Soll das heißen, Ihr glaubt, diese Zauberer konnten von hier aus den weiten Weg bis in die Alte Welt reisen und wieder zurück?«