Richard kratzte sich an der juckenden Stelle in seinem Nacken. »Ich weiß es nicht, Berdine. So hört es sich jedenfalls an.«
Berdine starrte ihn an, als warte sie auf weitere Beweise dafür, daß er den Verstand verlor. »Lord Rahl, wie könnte so etwas möglich sein?«
»Woher soll ich das wissen?« Richard sah aus dem Fenster. »Es ist spät. Wir sollten ein wenig schlafen.«
Berdine gähnte erneut. »Klingt, als wäre es eine gute Idee.«
Richard klappte Kolos Tagebuch zu und klemmte es unter den Arm. »Ich werde bis zum Einschlafen im Bett noch etwas lesen.«
Tobias Brogan betrachtete den Mriswith auf der Kutsche, den im Inneren sowie die anderen inmitten der Reihen seiner Männer, auf deren Rüstungen die Sonne blinkte. Er konnte alle Mriswiths sehen, keiner war unsichtbar und konnte sich an ihn heranschleichen, um zu lauschen. Jedes Mal, wenn er den Kopf der Mutter Konfessor in der Kutsche von der Seite erblickte, kochte er vor Zorn. Es machte ihn wütend, daß sie noch immer lebte und daß der Schöpfer ihm untersagt hatte, die Klinge gegen sie zu erheben.
Er blickte kurz zur Seite, um sich zu vergewissern, ob Lunetta nahe genug war, ihn zu verstehen, wenn er leise sprach.
»Lunetta, allmählich versetzt mich das in große Unruhe.«
Sie lenkte ihr Pferd näher, während sie dahinritten, damit sie mit ihm sprechen konnte, sah jedoch nicht zu ihm hin, falls einer der Mriswiths herschaute. Botschafter des Schöpfers oder nicht, sie konnte diese Schuppenwesen nicht ausstehen.
»Aber Lord General, Ihr habt behauptet, der Schöpfer habe, als er kam, um zu Euch zu sprechen, gesagt, Ihr müßtet es tun. Es ist eine sehr große Ehre für Euch, vom Schöpfer aufgesucht zu werden und sein Werk zu tun.«
»Ich glaube, der Schöpfer…«
Der Mriswith auf der Kutsche stand auf und deutete mit einer Kralle nach vorn, als sie über die Hügelkuppe kamen. »Sssseht!« stieß er mit einem scharfen Zischen hervor und fügte nach dem Wort ein kehliges Klicken hinzu.
Brogan hob den Kopf und erblickte eine große Stadt, die sich unter ihnen ausbreitete, und dahinter den glitzernden Ozean. Mitten in der Weite des Häusermeeres befand sich ein riesiger Palast, dessen Türme und Dächer in der Sonne funkelten. Ein goldener, von der Sonne beschienener Fluß teilte sich und umspülte die Insel, auf der er stand. Brogan hatte früher schon Städte gesehen, hatte früher schon prächtige Orte kennengelernt, dergleichen aber noch nie. Trotz seines Widerwillens war er von Ehrfurcht erfüllt.
»Er ist wunderschön«, hauchte Lunetta.
»Lunetta«, sagte er leise. »Gestern nacht hat mich der Schöpfer erneut aufgesucht.«
»Wirklich, mein Lord General? Das ist wunderbar. Es ist eine Ehre, daß Ihr in letzter Zeit so oft aufgesucht werdet. Der Schöpfer muß große Pläne mit Euch haben, mein Bruder.«
»Die Dinge, die er mir mitteilt, werden zunehmend fragwürdiger.«
»Der Schöpfer? Fragwürdig?«
Brogan blickte sie an. »Lunetta, ich glaube, es gibt Ärger. Ich glaube, der Schöpfer steht im Begriff, den Verstand zu verlieren.«
45
Als die Kutsche hielt, kletterte der Mriswith heraus und ließ die Tür offen. Kahlan warf einen Blick zur einen Seite aus dem Fenster, zur anderen aus der Tür und sah, daß die Mriswiths sich entfernten, um sich untereinander zu besprechen. Endlich waren sie beide alleine.
Adie beugte sich zur Seite und sah aus dem Fenster. »Gütige Seelen«, flüsterte sie entsetzt, »wir befinden uns mitten in Feindesland.«
»In Feindesland? Wovon redest du? Wo sind wir?«
»In Tanimura«, sagte Adie leise. »Das ist der Palast der Propheten.«
»Der Palast der Propheten? Bist du sicher?«
Adie richtete sich auf. »Ganz sicher. Ich war eine Zeitlang hier, als ich noch jünger war, vor fünfzig Jahren.«
Kahlan starrte ungläubig. »Du bist in die Alte Welt gereist? Du warst im Palast der Propheten?«
»Das ist lange her, Kind, und eine lange Geschichte. Dafür fehlt uns jetzt die Zeit, aber das war damals, nachdem der Lebensborn meinen Pell umgebracht hatte.«
Sie waren jeden Tag bis lange nach Einbruch der Dunkelheit und morgens vor Sonnenaufgang unterwegs gewesen, aber wenigstens hatten Kahlan und Adie in der Kutsche etwas Schlaf gefunden. Die Männer zu Pferd dagegen nicht. Ständig hatte die beiden Frauen ein Mriswith oder manchmal auch Lunetta bewacht, daher hatten sie seit Wochen kaum mehr als ein paar Worte miteinander wechseln können. Den Mriswiths war es egal, ob sie schliefen, sie hatten sie jedoch gewarnt, was geschehen würde, wenn sie miteinander sprachen. Kahlan zweifelte nicht an ihrem Wort.
Mit den Wochen war das Wetter auf dem Weg nach Süden wärmer geworden, sie fröstelte aber noch immer in der Kutsche, und sie und Adie schmiegten sich aneinander, um sich zu wärmen.
»Ich frage mich, weshalb sie uns hierhergebracht haben«, meinte Kahlan.
Adie beugte sich noch näher. »Ich frage mich, wieso sie uns nicht getötet haben.«
Kahlan schaute aus dem Fenster und sah, wie sich ein Mriswith mit Brogan und seiner Schwester unterhielt. »Weil wir lebend für sie ganz offensichtlich von größerem Wert sind.«
»Wert? Für was?«
»Was denkst du? Was könnten sie vorhaben? Als ich versuchte, die Midlands zu einigen, schickten sie mir einen Zauberer, der mich töten sollte, und ich mußte fliehen, als Aydindril in die Hände der Imperialen Ordnung fiel. Wer schmiedet die Midlands jetzt wohl zum Widerstand gegen sie zusammen?«
Adie zog die Brauen zusammen. »Richard.«
Kahlan nickte. »Eine andere Möglichkeit sehe ich nicht. Sie hatten mit der Eroberung der Midlands begonnen und brachten die Länder dazu, sich ihnen anzuschließen. Richard hat die Spielregeln verändert und ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht, indem er die Länder zwang, sich ihm zu ergeben.«
Kahlan starrte aus dem Fenster hinaus. »Sosehr es schmerzt, das zuzugeben, Richard hat vielleicht das einzige getan, was den Menschen der Midlands eine Chance läßt.«
»Wie kann man uns dazu benutzen, an Richard ranzukommen?« Adie tätschelte Kahlans Knie. »Ich weiß, er liebt dich, Kahlan. Aber er ist nicht dumm.«
»Die Imperiale Ordnung auch nicht.«
»Was sonst könnte es sein?«
Kahlan blickte in Adies weiße Augen. »Hast du jemals gesehen, wie die Sanderianer einen Berglöwen jagen? Sie binden eins ihrer Lämmer an einen Baum und lassen es nach seiner Mutter schreien. Dann setzen sie sich hin und warten.«
»Du glaubst, wir sind Lämmer, die man an einen Baum gebunden hat?«
Kahlan schüttelte den Kopf. »Die Männer der Imperialen Ordnung sind nicht dumm. Mittlerweile werden sie auch Richard nicht mehr für einen Narren halten. Richard würde niemals ein einzelnes Leben gegen die Freiheit aller eintauschen. Andererseits hat er ihnen auch gezeigt, daß er nicht davor zurückschreckt, die Initiative zu ergreifen. Sie könnten ihn zu der Annahme verleiten, daß er einen Rettungsversuch durchführen kann, ohne dafür etwas hergeben zu müssen.«
»Und, haben sie recht?«
Kahlan seufzte. »Was meinst du?«
Adies grinste freudlos. »Solange du lebst, wird er sein Schwert selbst gegen ein Unwetter erheben.«
Kahlan sah zu, wie Lunetta von ihrem Pferd herunterkletterte. Die Mriswiths entfernten sich zum hinteren Ende der Reihen der Männer in den karminroten Capes.
»Wir müssen fliehen, Adie, oder Richard wird uns folgen. Offenbar zählt die Imperiale Ordnung darauf, daß er kommt, sonst wären wir längst tot.«
»Kahlan, mit diesem verfluchten Ring um den Hals kann ich nicht einmal eine Lampe anzünden.«
Verzweifelt seufzend blickte Kahlan nach hinten aus dem Fenster und sah, wie die Mriswiths sich in den dunklen Wald entfernten. Im Gehen zogen sie ihre Capes um sich und wurden unsichtbar.
»Ich weiß. Ich kann meine Kraft auch nicht berühren.«
»Wie können wir dann fliehen?«
Kahlan beobachtete die in Fetzen bunten Stoffes gehüllte Magierin, wie sie sich der Kutsche näherte. »Wenn es uns gelingt, Lunetta auf unsere Seite zu ziehen, könnte sie uns vielleicht helfen.«