Brogan schien wieder zur Besinnung zu kommen und half Lunetta widerwillig herunter. Er wollte sich gerade wieder zur Kutsche umdrehen, als er sah, wie sich jemand näherte. Die Frau scheuchte ihn mit einer arroganten Handbewegung fort. Kahlan verstand nicht, was die Frau sagte, doch Brogan raffte die Zügel seines Pferdes an sich und gab seinen Männern ein Zeichen, ihm zu folgen.
Man befahl Ahern, vom Kutschbock zu steigen und sich den Männern des Lebensborns anzuschließen. Er warf ihr einen raschen, mitfühlenden Blick über die Schulter zu. Kahlan betete zu den gütigen Seelen, daß sie ihn nicht umbrachten, jetzt, nachdem seine Kutsche ihre Fracht abgeliefert hatte. Plötzlich wurde es laut, als die Männer zu Pferd sich in Bewegung setzten und allesamt Brogan und Lunetta hinterher ritten.
Dann wurde es still in der frühmorgendlichen Luft, und Kahlan spürte, wie der Zugriff des Halsrings nachließ. Wieder einmal wurde sie qualvoll daran erinnert, daß sie Richard gezwungen hatte, einen dieser Ringe anzulegen, und jeden Tag dankte sie den gütigen Seelen dafür, weil er schließlich verstanden hatte, warum sie es getan hatte: Sie wollte ihm das Leben retten und verhindern, daß die Gabe ihn tötete. Die Ringe jedoch, die sie und Adie trugen, waren anders als Richards, nicht zu ihrer Hilfe da. Diese Halsringe waren nichts weiter als Handschellen in einer anderen Form.
Eine junge Frau näherte sich mit großen Schritten der Kutsche und schaute hinein. Sie trug ein enganliegendes rotes Kleid, das wenig Zweifel an der Wohlgeformtheit ihres Körpers ließ. Der lange Haarschopf, der ihr Gesicht einrahmte, war ebenso dunkel wie ihre Augen. In der Gegenwart dieser überwältigend sinnlichen Frau kam Kahlan sich plötzlich vor wie ein Haufen Schmutz.
Die Frau maß Adie mit den Augen. »Eine Magierin. Nun, vielleicht läßt sich eine Verwendung für dich finden.« Ihr wissender Blick fiel auf Kahlan. »Kommt mit.«
Sie machte ohne ein weiteres Wort kehrt und wollte gehen. Kahlan spürte einen heißen, schmerzhaften Stich in ihrem Rücken, der sie aus der Kutsche stieß. Stolpernd fand sie ihr Gleichgewicht wieder, als sie den Boden berührte. Gerade noch rechtzeitig konnte sie sich umdrehen und Adie die Hand reichen, bevor diese stürzte. Die beiden beeilten sich, die Frau einzuholen, bevor sie ihnen einen weiteren schmerzhaften Stich versetzte.
Kahlan und Adie hasteten der Frau hinterher. Der Halsring ließ ihre Beine zucken und drängte sie, Schritt zu halten, während die Frau im roten Kleid in königlicher Haltung einherstolzierte. Kahlan kam sich vor wie eine trottelige Närrin. Adie wurde, anders als sie selbst, nicht getrieben. Kahlan biß die Zähne zusammen. Am liebsten hätte sie die überhebliche Frau gewürgt.
Andere Frauen und einige Männer in Roben schlenderten durch die milde Morgenluft. Der Anblick all dieser sauberen Menschen erinnerte sie in aller Schärfe daran, daß sie über und über mit Straßenstaub bedeckt waren. Trotzdem hoffte sie, daß man ihr nicht erlauben würde, ein Bad zu nehmen. Vielleicht erkannte Richard sie unter all dem Schmutz ja nicht. Vielleicht kam er überhaupt nicht, um sie zu holen.
Bitte, Richard, beschütze die Midlands. Bleib dort.
Sie liefen unter überdachten Laubengängen entlang, an deren Seiten auf Gittern Efeu mit duftenden weißen Blüten rankte, dann führte man sie durch ein Tor in einer hohen Mauer. Wachposten verfolgten die Szene, machten aber keinerlei Anstalten, die Frau, die sie führte, anzusprechen. Nachdem sie einen schattigen Pfad unter weit ausladenden Bäumen überquert hatten, betraten sie ein großes Gebäude, das ganz und gar nicht aussah wie das Rattenloch, das Kahlan erwartet hatte. Eher wirkte es wie ein richtiger Gästeflügel für Würdenträger, die auf Besuch im Palast weilten.
Die Frau im roten Kleid blieb vor einer mit Schnitzereien verzierten Tür in einer massiven Einfassung aus Stein stehen. Sie schob den Riegel der Tür mit einem Ruck zur Seite und trat vor ihnen ein. Das Zimmer war elegant, mit schweren Vorhängen, hinter denen man in einen steilen Graben von vielleicht dreißig Fuß blickte. Es gab mehrere dick mit Goldbrokat gepolsterte Sessel, einen Tisch und Schreibtisch aus Mahagoni und ein Bett mit Baldachin.
Die Frau drehte sich zu Kahlan um. »Dies wird Euer Zimmer sein.« Sie ließ ein kurzes Lächeln sehen. »Wir wollen, daß Ihr es bequem habt. Ihr werdet unsere Gäste sein, bis wir mit Euch fertig sind.
Versucht Ihr, den Schild zu durchbrechen, den ich an Eurer Tür und an Eurem Fenster anbringe, werdet Ihr auf Händen und Knien kriechen und kotzen, bis sich Eure Rippen anfühlen, als würden sie bersten. Das ist nur beim ersten Verstoß so. Nach dem ersten werdet Ihr keinerlei Verlangen verspüren, dergleichen noch einmal zu versuchen. Was beim zweiten Verstoß geschieht, wollt Ihr mit Sicherheit nicht wissen.«
Sie zeigte mit dem Finger auf Adie, hielt aber den Blick aus ihren dunklen Augen weiter auf Kahlan gerichtet. »Macht mir irgendeinen Ärger, und ich werde Eure Freundin hier bestrafen. Auch wenn Ihr vielleicht glaubt, Ihr habt einen starken Magen, so versichere ich Euch, Ihr werdet zu einer anderen Einschätzung kommen. Habt Ihr verstanden?«
Kahlan nickte, denn sie hatte Angst, daß sie nicht sprechen durfte.
»Ich habe Euch etwas gefragt«, sagte die Frau in ruhigem Ton. Adie sackte mit einem Schrei auf dem Boden zusammen. »Ihr werdet mir antworten.«
»Ja! Ja, ich habe verstanden! Bitte, tut ihr nicht weh!«
Als Kahlan sich umdrehte, um der nach Luft japsenden Frau zu helfen, erklärte ihr die Frau, sie solle die ›alte Frau‹ in Ruhe lassen, damit sie sich von selbst erholen könne.
Kahlan richtete sich widerwillig auf und überließ es Adie, auf die Beine zu kommen. Der kritisch musternde Blick der Frau wanderte der Länge nach an Kahlan hinunter, dann wieder hoch. Das spöttische Grinsen auf ihrem Gesicht brachte Kahlans Blut in Wallung.
»Wißt Ihr, wer ich bin?« fragte die Frau.
»Nein.«
Sie zog die Augenbrauen hoch. »Oh, oh, dieser ungezogene Junge. Wenn man es recht bedenkt, sollte es mich wohl nicht überraschen, daß Richard mich gegenüber seiner zukünftigen Gemahlin nicht erwähnt hat.«
»Wenn man was recht bedenkt?«
»Ich bin Merissa. Wißt Ihr jetzt, wer ich bin?«
»Nein.«
Sie gab ein leises Lachen von sich, so entnervend elegant wie alles andere an ihr. »Oh, wie ungezogen von ihm, solch schlüpfrige Geheimnisse seiner zukünftigen Gemahlin zu verschweigen.«
Kahlan wünschte sich, den Mund halten zu können, aber das war unmöglich. »Welche Geheimnisse?«
Merissa zuckte gleichgültig mit den Achseln. »Als Richard hier Schüler war, gehörte ich zu seinen Lehrerinnen. Ich habe sehr viel Zeit mit ihm verbracht.« Das spöttische Lächeln kehrte zurück. »Wir haben so manche Nacht miteinander verbracht. Ich habe ihm viel gezeigt. Ein so starker und aufmerksamer Liebhaber. Hättet Ihr ihm jemals beigewohnt, hättet Ihr von meinen … eher zärtlichen Unterweisungen profitieren können.«
Noch einmal hörte man Merissas leises, elegantes Lachen, als sie entschlossenen Schritts das Zimmer verließ und Kahlan vor dem Schließen der Tür ein letztes Lächeln zuwarf.
Kahlan stand da und ballte ihr Fäuste so fest, daß die Nägel sich in ihre Handfläche gruben. Sie hätte schreien mögen. Als die Schwestern des Lichts gekommen waren, um Richard in den Palast zu holen, da hatte Kahlan ihn gezwungen, den Halsring anzulegen. Er hatte geglaubt, sie habe es getan, weil sie ihn nicht liebte. Er hatte geglaubt, sie habe ihn fortgeschickt, weil sie ihn nie wiedersehen wollte.
Wie konnte er einer Frau widerstehen, die so schön war wie Merissa? Er hätte keinen Grund dazu gehabt.
Adie packte sie an der Schulter und riß sie herum. »Hör bloß nicht auf sie.«
Kahlan spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. »Aber…«
»Richard liebt dich. Sie will dich nur quälen. Sie ist eine grausame Frau und genießt es, dich leiden zu sehen.« Adie hob einen Finger und zitierte ein altes Sprichwort. »›Laß niemals eine schöne Frau den Weg für dich wählen, wenn sie einen Mann im Blick hat.‹ Merissa hatte Richard im Blick. Ich kenne diesen lüsternen Blick. Das ist nicht die Lust auf einen Mann. Das ist die Gier nach seinem Blut.«